Zwischen den Fronten: Tallinn, Estland

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Rundlauf durch die mittelalterliche Unter- und Oberstadt: Kuninga 1 – gegen Uhrzeigersinn in nordöstlicher Richtung auf Vana turg und Viru – links an der Stadtmauer entlang in Müürivahe – Munga – Vene – Bremeni kalk – aus Altstadt heraus durch Stadtmauer auf Uus – hinein in Altstadt durch Stadttor „dicke Margarete“ – Pikk – rechts an der Stadtmauer entlang – Lai – Laboratooriomi – Kooli – Gümnaasiumi – Väike-Kloostri – auf Nunne rechts aus der Stadt heraus – Toompark – Hirvepark – Tompea – Alexander Nevski Kathedrale – Parlament – Tomkirik – Aussichtsplattform Patkuli – zurück über Lossi plats – Lühike jalg – Dunkri – Raekoja Plats (Rathausplatz) – Vana turg – Kuninga; 4,3 km.

Tallinn Mai 2018 4,3 km

Immer an der Mauer 
Im Grunde ist es egal, ob man im mittelalterlichen Tallinn links oder rechts herum, innerhalb oder außerhalb der noch weitgehend intakten Stadtmauern joggt. Der Gesamteindruck bleibt überwältigend. Denn es mutet an, als habe die Stadt, die früher Reval hieß, ihre Blüte aus dem 14. Jahrhundert bis in die Neuzeit hinüber gerettet. Dabei ist der mittelalterliche Charme der von der UNESCO zum Kulturerbe der Menschheit dekorierten Altstadt durchaus trügerisch. Tallinn ist in seiner langen Geschichte immer wieder zwischen die Fronten der benachbarten Mächte geraten. Im frühen 13. Jhd. eroberten dänische Truppen mit päpstlichen Segen die Stadt, kurz darauf setzte der Deutsche Orden die Missionsarbeit fort und verband dies mit guten Geschäften. Die Kirchenleute richteten sich fürstlich auf dem Domberg in der Oberstadt ein. Heute residieren Diplomaten in den schmucken Palästen. Kaufleute und Handwerker, viele davon Söldner aus deutschen Hansestädten, ließen sich in der Unterstadt nieder. Tallinn wurde prosperierende Hansestadt und gab sich selbstbewusst das Lübecker Stadtrecht.
Tallinn liegt strategisch günstig am südlichen Ausgang des Golfs von Finnland. Wer hier seine Kanonen platziert, kontrolliert den Seeweg nach St. Petersburg. Da wundert es nicht, dass mit den Zeitläuften auf der einen Seite das zaristische Russland, die Sowjets und Putins Reich und auf der anderen Seite Dänen und Schweden, deutsche Ritter-, Reichs- und Nazitruppen, EU und NATO immer wieder danach trachteten, das kleine Juwel unter ihren Herrschafts- und Einflussbereich zu bringen. Weil Kriege dem Wohlstand aber auf Dauer abträglich sind, verlor Tallinn als Handelsstadt zusehends an Bedeutung. Aus touristischer Sicht ist das erfreulich, denn die Altstadt hat ihren spätmittelalterlichen Charakter bis heute fast gänzlich erhalten.

DSCF4246Die Drei Schwestern

Software und leckeres Essen
Wir beginnen unseren Morgenlauf inmitten der Altstadt vor dem ehemaligen Bischofssitz in der Kuninga 1, also der Königstraße. Schräg gegenüber liegt das Restaurant Olde Hansa, in dem mittelalterlich gekleidete Kellner ebensolche Speisen darbieten. Wir lassen diese „must go when you are in Tallin – location“ links liegen und traben bei angenehmen frühsommerlichen Temperaturen auf der Einkaufsstraße Viru auf das gleichnamige östliche Stadttor zu. Kurz vor den mächtigen Rundtürmen biegen wir links ab in die kleine Gasse Müürivase, was ein bisschen nach Mauer klingt und tatsächlich auch an dieser entlang führt. Die roten Lämpchen eines einschlägigen Etablissements in den Mauernischen sind am Morgen erloschen. Ein kurzer Abstecher führt uns in die St. Katharinengasse, mit ihren Lädchen und Gewölben eine kleine Idylle. Nach ein paar weiteren Ecken durchqueren wir auf der Bremeni kalk die Stadtmauer und biegen links auf die Uus Gasse. An der äußeren Stadtmauer findet sich das „Rest ja Aed“, erwähnenswert wegen seiner besonders guten estnischen Küche. Östlich der Altstadt blicken wir auf das futuristische Rotermann-Quartier. Hier zeigt sich das moderne Tallinn, und wir beginnen zu verstehen, warum das längst im Digitalzeitalter angekommene Estland zu den Tigerstaaten der Europäischen Union gehört. Die Software zu Skype, mit der die Videotelefonie ermöglicht wurde, wurde übrigens in Estland geschrieben.
Gute Adressen
Nun ist die „dicke Margarete“ nicht mehr zu übersehen, und genau dies war die Absicht ihrer Erbauer. Mauerstärke und Schießscharten lassen keinen Zweifel an der Verteidigungsbereitschaft der Stadt aufkommen, denn der mächtige kreisrunde Geschützturm im Norden der Altstadt bewacht die „große Strandpforte“. Wie damals die Händler, die ihre Waren vom Ostseehafen Revals auf die Märkte der Stadt brachten, laufen auch wir durch die Strandpforte wieder in die Altstadt hinein. Von hier gelangt man auf die Hauptstraßen Pikk und Lai, damals wie heute gute Adressen, wie die vielen spitzgiebeligen Handels- und Bruderschaftshäuser sowie die Luxuslimousinen am Straßenrand belegen. Passanten erkennen den Status der Hausbewohner bereits an den kunstvollen Schnitzereien der hölzernen Eingangstore. Wir aber nehmen eine Nebengasse, und auf den groben alten Kopfsteinpflastern hüpfen wir geradezu weiter an der Stadtmauer in südwestlicher Richtung entlang. Die Straßen heißen hier Laboratooriumi und Gümnaasiumi. Man ahnt, was sich hinter der estnisch-ugurischen Version dieser vertrauten Wörter verbirgt.

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Haus und Wappen der Schwarzkopf-Bruderschaft

An der Öffnung der Stadtmauer bei Nunne laufen wir aus der Altstadt hinaus und durch die adretten Grünanlagen von Dom- und Hirvepark. Am frühen Morgen arbeitet hier schon ein Filmteam. Hauptdarsteller ist ein halbnackter Yoga-Mann in Baumhaltung.
Allerbeste Freunde
Auf der Südseite der Stadt angelangt, keuchen wir nun die Tompea-Straße hinauf auf den Domberg und direkt auf die russisch-orthodoxe Alexander Nevski Kathedrale zu. Russland hat diesen Prachtbau mit List direkt vor die Domburg und das später dort eingezogene estnische Parlament erbauen lassen. So vergisst man nie, dass der Anspruch der Esten auf Unabhängigkeit, den sie erstmals 1918 formulierten, immer von der mehr oder weniger wohlwollenden Haltung des übermächtigen Nachbars im Osten abhängig war (und wohl immer noch ist).

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Gotisches Rathaus

Wir lassen die Politik jedoch links liegen und traben durch die Oberstadt an der alten Domkirche vorbei bis zur beliebten Aussichtsplattform Patkuli. Auf dem Postkartenblick in die Unterstadt besticht die nicht enden wollende Spitze des Turms der St. Olai Kirche, angeblich einmal der höchste Kirchturm der Welt. Aber der Blick schweift auch jenseits der Altstadt über Plattenbauten aus der Sowjetzeit.

Über Lossi plats und vorbei an der schmucken Residenz des deutschen Botschafters gelangen wir über die Treppen des Lühike Jalg zurück in die Unterstadt und auf den Raekoja plats, mit seinem bestens erhaltenen gotischen Rathaus aus dem frühen 15. Jahrhundert. Die Marktstände werden gerade aufgebaut. Ein neuer schöner Tag beginnt.

Ein Kommentar

  1. Berthild Sigrist · Juni 14, 2018

    Hallo lieberBatschie. Danke für 1/4 vor 7, interessant für mich war die kurze historische Beschreibung. Alle, die dort hinfahren kommen auch immer sehr angetan zurück. So habe ich ein bisschen was vom Baltikum erfahren. Morgen grosse Aufregung, weil Tomek kommt und Jan am Abend wegfährt. Sonst nichts Neues. Liebe Grüsse Euch Beiden Mutter >

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