Oostende aan Zee: Von Königen und Überlebenskünstlern

Rundlauf: Royal Astrid Hotel – Warschaustraat – Leopold 1 Plein – Leopold Park – Leopold Il Laan – Jachthafen – St. Paulus en Petrus Plein – Kaaistraat – Groente Markt – Wapenplein – Vlaanderenstraat – James Ensorhaus – Van Iseghemlaan – Kapucijnenstraat – Hofstraat – Londenstraat – Langestraat – Schippersstraat – Ooststraat – Visserskaai – Zeeheldenplein – Albert I Promenade – Casino – Koning Boudewijn Promenade – Leopold II Reiterstandbild – Schwimmbad – Royal Astrid Hotel; 5,9 km

Bewegte Zeiten „Il y a deux sortes de temps Y a le temps qui attend Et le temps qui espère…“ | „Es gibt zwei Arten von Zeit Die Zeit die wartet Die Zeit die hofft…“ |
Aus: Jacques Brel, Francois Rauber, L’Ostendaise, 1968 (Das Mädchen aus Ostend)
Als die Alliierten 1944 Ostende mit einem Bombenhagel von der deutschen Wehrmacht befreiten und die Stadt damit in Schutt und Asche legten, schien die große Zeit für die Stadt am Meer endgültig vorbei zu sein.
Noch um 1900 galt Ostende als das mondänste Seebad an der Nordsee, in dem sich Aristokraten und ihr Hofstaat trafen. Casino, Pferderennbahn und Strandcafés sorgten für standesgemäße Unterhaltung. Die Sommerresidenz der belgischen Könige verlieh dem Ort zusätzlichen royalen Glanz. Dieser Mixtur von frischer Seeluft und dekadenter Extravaganz wollten sich auch Künstler und Literaten nicht verschließen. So kamen auch deutschsprachige Autoren nach Ostende – bis zu jenem schicksalhaften Sommer 1936, als der jüdischen Freundesgruppe um Stefan Zweig und Joseph Roth allmählich dämmerte, dass es für sie keine Zukunft mehr in Hitlerdeutschland geben würde[1].

Ostende aber bot nicht nur royale Reality Shows und Literatentreffs, sondern war lange Zeit auch bedeutender Handelshafen mit Verbindungen bis nach China und Indonesien. In dem Lied „L’Ostendaise“ trifft der Chansonnier Jacques Brel die dissonanten Töne einer Stadt, in der ein junges Mädchen hoffend und bangend zugleich auf ihren Liebsten wartet. Als Matrose ist er auf den Weltmeeren unterwegs und wird vielleicht nie wieder nach Hause kommen. Das Mädel tröstet sich schließlich mit dem ortsgebundenen Apotheker.
Seevergnügen für alle
Heute hat Ostende die Bedeutung als Handelshafen längst an Antwerpen verloren. Und auch die Fährfahrten über den Kanal nach Dover haben ihren Betrieb eingestellt.

Doch Ostende blickt unverdrossen in die Zukunft. Seeluft und Strand, Garnelen und Bier, Unterhaltung und Kunst und eine Straßenbahn entlang der gesamten belgischen Küste: Da ist viel Vergnügliches für große und kleinere Geldbeutel dabei. Die 10-stöckigen Apartmenthäuser entlang der Uferpromenade sind zwar wahrhaftig keine Augenweide, aber sie ermöglichen immerhin Urlaub für jedermann: Jung und Alt, Familien und Schülergruppen, Rollstuhlfahrer und Go-Kart-Piloten.
Wer durch Ostende streift, entdeckt Spuren, Prunk und Protz einer bewegten Vergangenheit, aber auch eine Auseinandersetzung mit drängenden Fragen der Gegenwart. Ostende ist Seebad, Ort der Zerstörung, des Wiederaufbaus und Künstlerstadt zugleich. Die Nähe zum Meer hat schon immer alle Sinne der Menschen herausgefordert.
Viertelvorsieben
Ich starte meinen Rundlauf am längsten Morgen des Jahres. Eine steife Meeresbrise sorgt für frische 12 Grad Celsius. Es ist noch ruhig in der Stadt an diesem Samstag, den 22. Juni. Nur die Möwen sorgen mit ihrem unnachgiebigen Gekreische dafür, dass der Morgenschlaf ein frühes Ende findet.
Los geht es vom Hotel Royal Astrid, westlich der Altstadt, ein Straßenzug südlich der Strandpromenade gelegen. Über die frisch gepflasterte Warschau Straat laufend, auf der gerade ein Hündchen mit älterer Dame im Schlepptau sein Häuflein hinterlassen hat, stoße ich gleich zu Beginn auf den ältesten Vertreter der belgischen Königsdynastie: Auf dem Leopold I Platz steht das Reiterstandbild des ersten Königs der Belgier auf einem so hohen Sockel, dass man befürchtet muss, dass er da womöglich herunterfallen könnte. 1831 wurde Leopold I inthronisiert. Mit der Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden suchte man einen König und wurde im deutschen Adelsgeschlecht Sachsen-Coburg-Saalfeld fündig.
Weiter geht es durch den hübsch angelegten Leopold Park, der zu dieser frühen Stunde gänzlich den Enten, Nilgänsen und Schwänen gehört. Nur am Südende des Parkweihers tauchen plötzlich vier Frauenköpfe auf. Das Wasser steht ihnen buchstäblich bis zum Halse. Und doch blickt jede von ihnen mit sanftem Lächeln in eine der vier Himmelsrichtungen. Woran sie in dieser unbequemen Lage gerade denken mögen, das bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen. „Allegorische Köpfe“ hat der Künstler Leo Coppers seine Bronzen genannt.

Nun laufe ich ein kurzes Stück südwärts auf der mehrspurigen Leopold II Laan bis zum Yachthafen. Leopold II. folgte seinem Vater 1865 auf den Thron und blieb dort bis zu seinem Tode 1909. Er entwickelte sich zu einem auch für damalige Verhältnisse brutalen Kolonialisten, der das spätere „Belgisch-Kongo“ als sein persönliches Eigentum ansah und gnadenlos ausplünderte. Leopold gerierte sich nicht nur als absolutistischer Monarch sondern auch als gewiefter Geschäftsmann, denn mit den Kautschuk-, Kupfer- und Elfenbeinexporten aus der Kolonie ließ sich gutes (oder eher schmutziges) Geld verdienen. Historiker schätzen, dass Leopolds Ausbeutungsregime im Kongo bis zu 10 Millionen Tote hinterlassen hat. In Ostende aber lebt die Erinnerung an ihn ungetrübt weiter, denn er hat auch die Modernisierung der Stadt voran gebracht. Ich werde Leopold II. auf meinem Lauf noch einmal wiedersehen.
Gleich gegenüber vom Bahnhof liegt der hübsche kleine Yachthafen. Ich umrunde das Becken und laufe zu einem prachtvollen Dreimaster, der alle anderen Boote um Längen überragt. Es ist nicht die Gorch Fock, sondern ein ehemaliges belgisches Segelschulschiff namens Mercartor, das ebenfalls auf allen Weltmeeren unterwegs gewesen ist und nun ohne viel Wind zum Museum ausgebaut wurde. Vom Hafen ist es nur ein Katzensprung zum großen Platz mit der Sint-Petrus-en-Paulus Kirche. Die beiden schmalen neugotischen Türme bilden so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt. Egal, ob man sich Ostende mit dem Radl von Süden her über das flache Land oder von Osten zu Fuß aus der Dünenlandschaft von Bredene nähert, die Türme sind markante Spitzen in der Stadtsilhouette.
Nun kommt allmählich Leben auf. Auf dem Groente Markt sind die Gemüse-und Obststände schon aufgebaut. Und man wäre nicht in Belgien, wenn die Fleischhändler nicht auch die köstlichsten Patés in die Auslage stellen würden. Und natürlich stehen auf dem Markt auch die Frittenbuden mit ihren spitz zulaufenden Tüten, die dafür sorgen, dass beim Herausklauben der letzten Fritte die ganze Hand wunderbar mit Mayonnaise eingeschmiert wird.
Auf dem benachbarten Wapenplein öffnet an diesem Samstag nun auch der Kleidermarkt. Ein Shop hat ein halbes Dutzend eleganter Kleiderpuppenbeine aufgehängt und ihnen bunte Socken übergestreift. Das ist ein schöner Hingucker, auch wenn ich heute Morgen keine frischen Socken brauche.
Stadt der Künstler
Was mich eigentlich interessiert, ist das Haus in der Vlaanderenstraat 27. Ein schmales unscheinbares Reihenhaus, eingezwängt zwischen zwei großen Apartmentblocks. Der Rollladen vor dem ehemaligen Souvenirladen im Erdgeschoss ist heruntergelassen. Ein Schild erklärt, dass das Haus wegen Renovierung geschlossen ist. Hier also lebte und arbeitete der große Ostender Maler und Zeichner James Ensor über 40 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1949. Ensor wird immer wieder als „Maler der Masken“ und Vorläufer des Expressionismus bezeichnet. In einer Sonderausstellung im Kunstmuseum Mu.Zee zeigt sich, dass Ensor tatsächlich auch ein begnadeter Landschaftsmaler und Zeitzeuge seiner Heimatstadt war. Einflüsse aus dem Impressionismus sind offensichtlich und sein virtuoses Spiel mit dem Licht lässt erahnen, dass er sich auch von William Turner inspirieren ließ.

Auf dem Weg vom James Ensors Haus zum Hafen stoße ich in der Hofstraat ganz unvermittelt auf sechs überdimensionale aufeinanderliegende Nagetiere. Dieses Bild, das der bekannte belgische Street-Art Künstler RAO mit fein ziselierten schwarzen Strichen an die Brandmauer eines vierstöckiges Eckhauses gesprayt hat, verfehlt seine verstörende Wirkung nicht. Denn als Mensch sieht man sich angesichts dieser schlafenden Ungeheuer ganz ungewohnt in die Perspektive des Underdogs gedrängt.
RAOs Werke, die häufig Tiere oder Tierkadaver in den Vordergrund rücken, finden sich an vielen Hauswänden der Welt wieder, so auch in Kreuzberg in Berlin. In Ostende sind sie das Produkt eines regelmäßigen Street Art Festivals, zu dem die Stadt namhafte Kunstsprayer einlädt und auf diese Weise manch schäbige Häuserfassade in neuem Gewande erstrahlen lässt. Auf meinem Stadtrundlauf werde ich auf weitere Street-Art Künstler stoßen.
Leckerbissen
Auch wer des Flämischen nicht mächtig ist, wird ahnen, dass auf dem Visserskaai die Buden der Fischverkäufer nicht weit sein können. Und natürlich sind hier die kleinen grauen Nordseegarnelen der Verkaufsschlager. Wer mag, kann sie z.B. bei Viesboetiek Siska auch gleich in einem morgendlichen Fischsuppeneintopf genießen. Für das längste Wochenende des Jahres haben sich die Stadtmanager zudem weitere Leckerbissen ausgedacht.

Denn am östlichen Ende der großen Seepromenade, auf dem Zeeheldenplein, dem Platz der Seehelden, bieten 24 Ostender Köche ebenso viele kulinarische Kreationen rund um die Nordsee an. Erhöhter Speichelfluss wird garantiert.
Gleich nebenan findet die Sand City Dreams Ostende statt, ein Sandskulpturenfestival mit über 40 Künstlern aus aller Welt. Wer allerdings glaubt, dass hier einfach nur der herumliegende Nordseesand kunstvoll aufeinander gehäufelt wird, irrt gewaltig: Die Macher des Festivals versichern, dass eigens tonnenweise Grottensand aus den Ardennen herbeigeschafft wurde. Denn nur dieser Sand weist die nötige Festigkeit auf, damit die Kunstwerke auch mehrere Wochen lang Wind und Wetter trotzen können. Stolz wird darauf verwiesen, dass dieses angeblich größte Event seiner Art im Guinness Buch der Rekorde aufgeführt wird.
Auf einem großen Platz der Promenade, die nach dem angesehenen König Albert I. (als Nachfolger des ungeliebten Leopold II.) benannt ist, hat der Künstler Arne Quinze zerbeulte orangefarbene Metallquader platziert. „Rock Strangers“ nennt er seine Installation und provoziert damit gezielt gemischte Gefühle der Betrachter bei der Begegnung mit Fremdem und Ungewohntem. Prompt hagelt es bei „Tripadvisor“ jede Menge Kritik an den unförmigen „Kästen“.

Zeit für Frau Königin?
Zur Abrundung des Laufes jogge ich nun über die lange und breite Uferpromenade in westlicher Richtung zum Ausgangspunkt zurück. Dieser Teil der Promenade ist nach dem von 1951 bis 1993 amtierenden König Baudouin benannt.
Immerhin vier belgischen Königen bin ich heute Morgen schon begegnet. Diese bemerkenswert innige Referenz der Stadt an das belgische Königshaus hat vielleicht sogar eine segensreiche Wirkung, denn es wird von vielen Menschen trotz mancher royaler Verirrungen als eine letzte verbindende Institution in einer auseinanderdriftenden Nation angesehen. Flamen und Wallonen liefern sich seit Jahren einen erbitterten politischen Streit, der die Regierungsfähigkeit des Landes immer wieder in Frage stellt.
Auf der Promenade aber richte ich nun den Blick auf die vielen im Fußboden eingelassenen Sterne und Sternchen. Denn sie erinnern an die SchauspielerInnen, die an den jährlichen Ostender Filmfestspielen teilnehmen. Das Motto der jungen Leiterin Lynn van Royen für die Festspiele 2019 lautet: „Who run the world? Girls!“ Das hätte sich wohl keiner der allesamt männlichen belgischen Könige so ausgedacht.

[1] Volker Weidermann, Ostende 1936, Sommer der Freundschaft, Kiepenheuer & Witsch, 2014