Vom Glücksgefühl auf Radlerbrücken: Kopenhagen

Laufroute: Mit dem Rad aus dem Stadtteil Nørrebro bis zum Café la Pausa am nordöstlichen Ufer des Peblinge Sees, dann Laufstrecke am Seeufer, über Brücke Dronning Louises, Gothersgade, Kings Garden mit Schloss Rosenborg, Nyhavn, über die Brücke nach Christianshavn, Circle Bridge, Lille Langbro Brücke, DAC, Frederiksholm Kanal, Königspalast, Margstraede, Strøget, Købmagergade, Kultorvet, Nørreport, Orstedsparken, Seepavillon; 8,3 km.

Als Brasilia 1960 zur neuen Hauptstadt des größten Landes Südamerikas gekürt wurde, war Jan Gehl begeistert von Oscar Niemeyers monumentaler Meisterleistung. Niemeyer und seine Mitstreiter hatten mitten im Urwald eine Stadt aus dem Boden gestampft, die den Menschen Wohlstand, Demokratie und Freiheit versprach – und ein eigenes Auto. Denn Fußwege und Bürgersteige sind in Brasilia bis heute Mangelware.[1] Doch dann stellten sich der junge dänische Stadtplaner und seine Frau die Frage, was Architektur eigentlich mit den Menschen macht, die in ihr und um sie herum leben müssen. Sie gingen auf die Straßen und Plätze Kopenhagens und fragten bei den Einwohnern nach. So erzählt es jedenfalls Jan Gehl 2014 in einem Interview mit brandeins online.
Menschenfreundliche Stadtplanung
Kopenhagens Stadtverwaltung hatte mit dem sog. Fingerplan schon früh auf die Vernetzung von Stadtentwicklung mit Naherholungsgebieten gesetzt. Nun begleitete die Stadt die Forschungsarbeiten von Gehl und seiner Frau und setzte ihre Empfehlungen behutsam um. Der Erfolg ist offensichtlich: 1960 verpesteten Autoschlangen die Innenstadt Kopenhagens. Heute sind im Zentrum sämtliche Plätze autofrei. Parkplätze werden Zug um Zug reduziert, Radwege weiter ausgebaut. Mehr als ein Viertel aller Kopenhagener ist inzwischen mit dem Fahrrad unterwegs. Für viele Menschen ist das schlicht die schnellste und sicherste Form der Fortbewegung – und für die Stadtplaner ein wichtiger Schritt in Richtung Klimaneutralität. Doch die Entwicklung wirft auch Schatten, denn die Mietpreise sind hoch und ältere Menschen ziehen sich aufs Land zurück.
Wie fühlt sich das an, in einer den Menschen so zugewandten und lebensbejahenden Stadt unterwegs zu sein? Ich mache einen Selbstversuch, miete mir ein Fahrrad und radle und jogge im Juli 2021 kreuz und quer durch die Stadt.
An einem schönen Sommermorgen fahre ich vom kulturell sehr abwechslungsreichen Stadtteil Nørrebro mit Harry, meinem Mietfahrrad, bis zum Café la Pausa, ein wunderbar gelegener Ort am Rande eines Seengürtels, der mitten durch die Stadt verläuft. Schon das Morgenlicht über dem See wirkt euphorisierend. Und das ist gut so, denn meine nun beginnende acht Kilometer lange Laufrunde durch die Stadt erfordert Durchhaltevermögen.

An der Dronning Louises Brücke biege ich rechts ab in Richtung Innenstadt und laufe dann die Gothersgade knapp zwei Kilometer zum Nyhavn (Neuer Hafen) hinunter, mitten hinein in Kopenhagens touristische Puppenstube. Gothersgade bedeutet so viel wie „Straße der gotischen und wendischen Könige“, ein Titel, den das dänische Königshaus lange für sich beanspruchte. Königlich ist an der vielbefahrenen Straße mit etlichen Kneipen aber nur Schloss Rosenborg, das inmitten der Königlichen Gärten liegt. Ein Striplokal gegenüber wirbt damit, ausschließlich dänische Damen zu beschäftigen. Ist das womöglich eine Folge der restriktiven Einwanderungspolitik?
Nyhavn ist ein im 17. Jahrhundert angelegter Kanal, der Kopenhagens Hafen mit dem Neuen Königsmarkt, ein zentraler Platz in der Altstadt, verbindet. Der Kanal mit seinen pittoresken Häusern aus dem 18. und 19.Jahrhundert entfaltet vor allem am frühen Morgen seinen besonderen Charme. Tagsüber und abends jedoch, wenn die Menschen um die zahllosen Kneipen und Souvenirläden flanieren, gibt es kaum ein Durchkommen.

Wenn Wasser zum Spielplatz wird
Ich nähere mich jetzt der breiten Wasserstraße, die Kopenhagen mit der Ostsee verbindet. Die Einheimischen haben das blitzsaubere Wasser im Hafen längst als Schwimmbad und Vergnügungspark in ihren Alltag integriert. Die besucherfreundlichen Uferanlagen sind zugleich Strandbad, Treffpunkt, Liegewiese oder Partyfläche.
Gleich hinter dem Nyhavn trabe ich über die Inderhavnsbroen, eine überaus elegant geschnittene Fußgänger- und Radfahrerbrücke, hinüber nach Christianshavn. Jenseits der Brücke liegt eine beliebtes Street Food Areal. Das alternative Nachbarviertel – die in den 1970er Jahren gegründete Freistadt Christiania – lasse ich allerdings links liegen, denn wer sich dort auf der Pusher Street mit Rauschmitteln benebeln will, macht das lieber später am Tag.
Ich hab’s mehr mit dänischer Architektur und blicke von der Inderhavens-Brücke auf das weit über das Wasser gebaute Schauspielhaus. Schräg gegenüber die Silhouette des Opernhauses – zwei Stilikonen des modernen Kopenhagens.

Der Ortsteil Christianshavn ist ebenfalls weitgehend Neubaugebiet. Von seiner Wasserfront hat man den besten Blick auf Kopenhagens Altstadt. Mein Favorit ist die Circle Bridge, eine Brückenkonstruktion für Fußgänger und Radler aus mehreren kreisrunden Plattformen. Sie liegt exakt gegenüber dem „Schwarzen Diamanten“, also der Dänischen Königlichen Bibliothek, eine überaus gelungene architektonische Symbiose von Alt und Neu. Die Lesesäle strahlen ein so einzigartiges Ambiente aus, dass bei den hier Studierenden – das ist empirisch belegt – unwillkürlich Glücksgefühle aufkommen.
Design kann glücklich machen
Über die Lille Langebro, eine weitere elegant geschwungene Radbrücke über den Hafen, geht es wieder zurück in die Altstadt. Doch jenseits der Brücke laufe ich zunächst auf riesige, kreuz und quer aufeinander gestapelte anthrazitfarbene Legosteine zu – eine Verbeugung vor einem der weltgrößten Spielzeughersteller aus dem dänischen Billund. Im Innern des Gebäudes ist das Danish Architecture Center (DAC) untergebracht, in dem mit einer kleinen Prise Selbstbewusstsein die unbestreitbaren Errungenschaften dänischer Stadtplanung und Architektur gewürdigt werden.
Das DAC werde ich später besuchen. Deshalb laufe ich weiter und nähere mich entlang des Frederiksholm Kanals erneut königlichen Gefilden. Vor dem monumentalen Schloss Christiansborg thront Christian IX. auf hohem Ross, König von Dänemark von 1863 bis 1906. Er heiratete übrigens seine deutsche Cousine, eine Prinzessin von Hessen, was allerdings nicht den deutsch-dänischen Krieg von 1864 um die Herzogtümer von Schleswig und Holstein verhindern konnte. Immerhin gelang es dem Paar, ihre sechs Kinder allesamt in diversen Königshäusern unterzubringen. Das brachte Friedrich IX. den Ehrentitel „Schwiegervater Europas“ ein. Aus Schloss Christiansborg selbst ist die Königsfamilie inzwischen in das nahegelegene Schloss Amalienborg umgezogen. Das hat besonders viele Schornsteine, weil die amtierende Königin Margrethe II., so wird gewitzelt, Kettenraucherin ist. In Christiansborg sind unterdessen die heutigen drei Gewalten der dänischen Demokratie eingezogen: Exekutive, Legislative und Judikative walten allesamt unter einem, wenn auch sehr großen Dach.
Mein weiterer Laufweg führt mich durch die Margstraede, angeblich die älteste Straße der Stadt. Durch das Altstadtlabyrinth lande ich schließlich dort, wo die große Fußgängerstraße Strøget auf den Storchenbrunnen trifft. Hier könnte man sich wohlfühlen, wenn man nicht wüsste, dass die dänische Kriminalautorin Katrine Engberg in ihrem Thriller „Glasflügel“ ausgerechnet in diesem Brunnen eine Frauenleiche versenkt hat.
Entlang der menschenleeren, tagsüber aber sehr belebten Købmagergade mit ihrem weißgrau-melierten Fußbodenbelag und der gelben Schlangenlinie in der Mitte passiere ich den berühmten Runden Turm von Kopenhagen. Im 17. Jhd. wurde er als Sternwarte erbaut und mit einem Wendelaufgang versehen, der auch zu Pferde bestiegen werden kann.
Am Kultorvet-Platz plätschern am Morgen schon die Wasserspiele. Die Straßencafés haben geöffnet und drinnen schnaufen die Siebträgermaschinen.

Nun ist es nicht mehr weit zu meinem Ausgangspunkt. Ich gönne mir noch einen Besuch auf dem Blumenmarkt am Bahnhof Nørreport sowie einen Abstecher in den idyllischen Orstedsparken, ein kleiner Stadtpark mit See, der am Morgen vor allem von älteren Hundeliebhabern frequentiert wird. Zurück amPeblinge Sø, hat sich schon eine Gruppe Jogger zu Dehnübungen am Seepavillon versammelt. Die Männer mit Tattoo machen es mit nacktem Oberkörper. Ein Bagger reinigt bedächtig den Seeboden. Auch für die Enten und Schwäne soll alles schön hyggelig sein.
[1] Vgl. in dieser Serie: Laufspass auf der Stadtautobahn: Brasilia trotzt der Krise, November 2016 (laufspass auf der Stadtautobahn | Suchergebnisse | viertelvorsieben