Budapest: Zurück zu alter Größe?

Ungarns museales Parlamentsgebäude

Laufrunde von Platz zu Platz in der Innenstadt von Pest: Kamermayer Karoly Szervita – Vörösmarty – Vigadó – Széchenyi István – Holocaust Memorial am Donauufer – Kossuth Lajos (Parlamentsgebäude) – Mahnmal des Miteinanders – Szabadság (Freiheitsplatz) – Szent István (St. Stephans Basilika) – Ungarische Staatsoper – Székely Mihály (Jüdisches Viertel) – Synagoge Kazinczy Straße – Große Synagoge Dohány Straße – Astoria – Semmelweis – Kamermayer; 6,6 km

Joggingroute durch Pest – (Karte ©Google Maps)

Es ist kein Zufall, dass ich beim Frühstück im gemütlichen Gerloczy Café im V. Budapester Distrikt endlich Karoly Kamermayer höchstpersönlich treffe.  Denn zuvor bin ich ihm auf meinem Morgenlauf durch Budapest schon mehrmals auf die Spur gekommen. Kamermayer wurde 1873 zum ersten Bürgermeister Budapests gewählt und blieb 23 Jahre lang im Amt. Die Stadt entstand aus der Vereinigung der westlich und östlich der Donau gelegenen Ortschaften Buda, Obuda und Pest. Kamermayer galt als integer und weitsichtig und legte die Grundlagen für eine moderne Stadtentwicklung. Er sorgte für Trinkwasser und Abwasserentsorgung, ließ Krankenhäuser und Markthallen errichten, setzte die erste Metro auf dem europäischen Festland auf die Schiene und bereicherte das kulturelle Leben durch den Bau der ungarischen Staatsoper. Unter seiner Amtszeit wurde Budapest zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren Europas. Seine Statue steht wenige Meter vor meinem Frühstückstisch.

Budapests Visionär

Prächtige Theaterkulisse
Doch nun zu meinem Lauf. Wer frühmorgens durch eine Großstadt joggt, trifft auf die üblichen Verdächtigen: Leute von der Stadtreinigung, Menschen, die zur Frühschicht eilen und ein paar ähnlich verrückte Sportler. In Budapest treffe ich an diesem Frühsommermorgen durch den Stadtteil Pest (ungarisch: Pescht) auf bemerkenswert viele Gassi-Geherinnen. Denn in Ungarn, dem Land der Hundefans, wohnt fast in jedem Haushalt ein Vierbeiner.  Aber Budapest hat natürlich mehr zu bieten.

Wie eine Theaterkulisse breitet sich die Stadt vor mir aus. Der Vorhang ist aufgezogen, die Straßen sind noch fast leer. Auf der Bühne sehe ich großzügige Plätze, barocke Kirchen, kunstvoll dekorierte Paläste aus der Blütezeit der K.u.k.-Monarchie, schöne Jugendstilfassaden neben ultraschicken Glasbauten aus der EU-finanzierten Moderne. Und immer wieder etliche mit Holzbrettern vernagelte Fenster – bröckelnde Schönheiten aus vergangenen Zeiten.

Early Birds vor der St. Stephans Basilika

Über die Innenstadt laufe ich zum Donauufer und stolpere auf dem engen Uferweg beinahe über die Angelleinen der Fischer. Fast lautlos gleitet eines dieser unendlich langen Flusskreuzfahrtschiffe vorbei.  Auf der anderen Seite des Flusses glänzt das historische Burgviertel in der Morgensonne. Wiener Tor, Matthiaskirche, Königsschloss – alles repräsentative Bauten aus der K.u.k.-Zeit. Aus dem Burgviertel ragen auffallend viele Baukräne hervor. Denn seit Jahren wird hier saniert. Etliche Gebäude entstehen ganz neu im alten Glanz.  Es wird viel Aufwand in die Restauration gesteckt.

Dann komme ich an die Stelle am Donauufer, wo die gusseisernen Schuhe stehen. Tags zuvor hatte ich Schulkinder beobachtet, wie sie versuchten mit ihren Füßen hineinzuschlüpfen. Dieses nette Bild entpuppt sich als Erinnerung an grausame Zeiten. Es sind Schuhe von Kindern, Frauen und Männern, die da am Donauufer stehen. Sie stehen für die Schuhe von Tausenden von Juden, die die Nazis 1944 zum Donauufer trieben und erschossen. Doch vorher mussten alle ihre Schuhe ausziehen.  

Die Schuhe am Donauufer

Erinnerungspolitik
An dieser Stelle muss ich vorgreifen und über ein Holocaust-Denkmal sprechen, was ich auf meinem Lauf erst später erreichen werde. Denn dieses andere Denkmal ist höchst umstritten. Auf dem Siegesplatz mitten im Zentrum Budapests wurde zum 70. Jahrestag der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 in einer Nacht-und-Nebel Aktion das „Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“ errichtet. Tags zuvor hatte der ungarische Touristenführer Ódor uns erklärt, was wir dort sehen sollen: In zentraler Position steht der Erzengel Gabriel mit dem Reichsapfel in der Hand. Gabriel symbolisiert das unschuldige Ungarn. Auf ihn herab stößt ein Höllenvogel mit brutalem Flügelschlag. Das ist der deutsche Reichsadler. Die Botschaft: Ungarn hat mit dem Einmarsch der Wehrmacht seine Souveränität verloren. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán bezeichnete die Skulptur als „makelloses Kunstwerk“. In Ungarn und auch international gab es dagegen Proteste. Der Historiker György Dalos ist der Auffassung, dass mit dem Mahnmal versucht wird, die Geschichte umzuschreiben. [1]  Kritiker des Denkmals leugnen keineswegs die Kriegsverbrechen der Deutschen in Ungarn, doch die 500.000 ungarischen Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, wurden unter dem damaligen Horthy-Regime auch mit tatkräftiger Hilfe der ungarischen Behörden und unter Duldung oder gar Mitwirkung breiter Bevölkerungsschichten vor Ort vertrieben und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Aus Protest vor der Leugnung der ungarischen Kollaboration haben private Initiatoren vor dem offiziellen Denkmal authentische Gedenkstücke ermordeter Juden ausgestellt. Wir sehen Briefe und Fotografien, Koffer und vereinzelte Kleidungsstücke. Zwischen diesem und jenem Denkmal rauscht auf einer engen Durchgangsstraße alle paar Sekunden ein Auto durch – ein verstörender Gesamteindruck.


[1] György Dalos, Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns. München 2022

Auf dem Siegesplatz: Erinnerungsstücke ermordeter Juden vor dem
„Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“

Das museale Parlament
Auf dem Weg zum Siegesplatz bin ich zuvor um das riesige Parlamentsgebäude am Donauufer herumgelaufen. Das dauert eine Weile, denn das Hohe Haus ist so breit wie die Länge von zweieinhalb Fußballfeldern. Die Vertreter des Volkes agieren in einem wahrhaft prächtigen Bau, der im Stil und aufgrund seiner Lage am Fluss an das britische Westminster erinnert. Die Parkanlagen rund um das Gebäude sind wunderbar gepflegt und werden von Männern in olivgrünen Uniformen bewacht. Als ich frohgemut an ihnen vorbeilaufe, grüßen sie freundlich zurück. Ich erinnere mich, dass der Touristenführer Ódor erklärt hatte, dass das Gebäude ursprünglich für ein Großungarn in den Grenzen vor 1920 gebaut worden war. Denn nach verlorenem Erstem Weltkrieg und mit dem Vertrag von Trianon musste Ungarn rund zwei Drittel seiner Gebiete vor allem an Rumänien, Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei abtreten. Über 100 Jahre später scheint das manchem nationalistisch gesinnten Politiker (wieder) zu schmerzen. So ist es kein Zufall, dass in der zentralen Sichtachse zum Parlamentsgebäude, in der Alkotmány Straße, Ministerpräsident Orbán erst vor zwei Jahren das „Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ einweihte. In der hundert Meter langen Steinrampe sind die Namen aller Ortschaften und Städte des einstigen Königreichs Ungarn in den Grenzen von 1913 eingemeißelt. Obwohl dieses Denkmal den gegenwärtigen Machthabern so wichtig ist, bin ich an der Rampe zunächst fast achtlos vorbeigelaufen, weil ich sie für die Einfahrt zu einer Tiefgarage hielt.  Erst beim näheren Hinsehen entdecke ich die über 12.000 Dorf- und Städtenamen.

„Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ 

Vom Ende der Rampe blicke ich zurück auf das Parlament und frage mich, wie es dort eigentlich im Innern zugeht. Nach meinem Lauf schaue ich mir deshalb die Ergebnisse der Wahlen vom April 2022 an.  Orbáns Fidesz-Partei, das steht für „Ungarischer Bürgerbund“, hat wiederum ihre Zwei-Drittel-Mehrheit behauptet, nun schon zum dritten Mal seit 2010.  Wie kriegt Orbán das immer wieder hin? Nun, er ist ein charismatischer Populist. Da kann ihm kaum einer das Wasser reichen. Er setzt auf die Stimmen in der Provinz. Nur in der Hauptstadt hat die Opposition die Nase vorn. Die öffentlichen Medien hat Orbán monopolisiert und die privaten Nachrichtenorgane unter die Kontrolle seiner politischen Freunde gebracht. Von Putin bekommt er für seine russlandfreundliche Politik billiges Gas und Erdöl und hält so die Energiepreise für die Bevölkerung niedrig. Der öffentliche Nahverkehr ist für Menschen ab 65 kostenlos. So bekommt er die Rentner:innen auf seine Seite.  

Ich will es gleichwohl noch genauer wissen und suche eine Tankstelle. Ende Mai 2022 kostete der Liter Superbenzin an Tankstellen des teilstaatlichen MOL-Konzerns umgerechnet rd. 1,25 Euro – da hatten die Benzinpreise in Deutschland schon die 2 Euro-Marke überschritten.  Und trotzdem macht MOL mit seinem Gas- und Ölgeschäft immer noch satte Gewinne, weil es den Rohstoff zu sehr guten Konditionen aus Russland bezieht. Die Dividenden, 2021 laut Geschäftsbericht immerhin 610 Mio. Euro, werden an Fidesz-treue Bildungsinstitutionen ausgeschüttet. Diese wiederum fördern Fidesz-treue Anhänger, wie die New York Times berichtet.  Aus Brüssel bezieht Orbán trotz wiederkehrender Korruptionsvorwürfe weitere Subventionen, mit denen er seine Klientel bedient. So läuft das System Orbán wie geschmiert. Weil im EU-Rat das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, hat auch dort Orbáns Stimme Gewicht. Im Streit um das EU-Ölembargo gegen Russland gelang es ihm fast nach Belieben Ausnahmeregelungen auszuhandeln.

Zurück ins Parlament. Seit Fidesz über die Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, finden keine wirklichen parlamentarischen Auseinandersetzungen mehr statt. György Dalos berichtet, wie sich die Fidesz-Mehrheit mit allerlei Verfahrenstricks und dem gezielten Einsatz des Rechnungshofes die Opposition vom Leibe hält und die Abgeordneten nur noch zu wichtigen Abstimmungen im Hohen Haus erscheinen.  Es scheint, als wäre das Parlament nun auch im Innern zu dem geworden, wie es von außen aussieht: Das prächtige Wahrzeichen einer erstarrten Demokratie.  

Zwei ungarische Helden: Szent István und Ferenc Puskás
 

Die Helden der Basilika
Kommen wir wieder zurück zum Freiheitsplatz, denn von dort ist es nur noch ein kurzer Lauf bis zur Stephans-Basilika. Besuchern werden gern zwei Geschichten erzählt. Die eine sagt, dass in der Kirche ein Stück Handknochen des Heiligen Stephan aufbewahrt wird.  Der Heilige Stephan, ungarisch: Szent István, wird als Staatsgründer Ungarns verehrt, weil er im 11. Jahrhundert erster König Ungarns war. Die zweite Reliquie ist der Leichnam des Ferenc Puskás. Dieser Name dürfte nicht allen Lesern geläufig sein. Puskás muss in einem Atemzug mit Namen wie Beckenbauer, Cruyff oder Di Stéfano genannt werden. Denn er gehörte in den 1950er und 1960er Jahren zu den besten Fußballspielern der Welt und war Kapitän der ungarischen „Goldenen Elf“. Am legendären 6:3 gegen England 1953 im Wembley-Stadion war er maßgeblich beteiligt. 1954 war er drauf und dran Weltmeister zu werden, wäre da nicht das „Wunder von Bern“ dazwischengekommen, als die deutsche Elf die Ungarn überraschend mit 3:2 besiegten. Puskás ruht in der Szent István-Basilika neben Heiligen und Königen und wird in Ungarn als Nationalheld verehrt. Als wäre das nicht Huldigung genug, ist auch das Budapester Fußballstadion nach ihm benannt. Im jüdischen Viertel von Pest entdecke ich zudem eine riesige Hauswand, auf der die Geschichte vom 6:3 verewigt ist.

Auf einer Hauswand verewigt: Ungarns legendäres 6:3 gegen England 1953 im Wembley Stadium
 

Kamermayers Vermächtnis
Von der St. Stephans Basilika laufe ich jetzt durch enge Gassen nach Osten und komme zu zwei bedeutenden Bauwerken, die die Handschrift von Bürgermeister Karoly Kamermayer tragen. Die ungarische Staatsoper ist ein so prächtiger Neo-Renaissancebau, dass der österreichische Kaiser Franz Joseph I. bei ihrer Einweihung sauer war, weil sie ihm noch prunkvoller als das Wiener Opernhaus erschien. Zur Oper gelangt man übrigens, der Weitsicht Kamermayers sei es gedankt, mit der historischen U-Bahnlinie M1.  Auch als Jogger lohnt sich ein Abstecher in die nur weniger Meter unter der Straße liegende Station „Opera“.

Station „Opera“ der ersten U-Bahn auf dem europäischen Festland

Die Station ist blitzsauber. Die Wände sind geschmackvoll in weiß-schwarzem Muster gekachelt, die Ein- und Ausgangstüren aus schönem Holz geschnitzt, die Stahlträger kunstvoll ausgestattet.  

Durch das jüdische Viertel
Das jüdische Viertel liegt südlich der Staatsoper. Die Hauptstädter nennen es auch gerne das Elisabeth-Quartier. Denn der schönen Sissi, der Gemahlin von Franz Josef I. und ab 1867 auch gekrönte Königin von Ungarn, wird eine große Liebe zu den Magyaren nachgesagt. Ihre jüngste Tochter kam in Buda zur Welt. Kein Touristenführer versäumt es zu erwähnen, dass sich die Wittelsbacherin mit Erfolg bemühte, ungarisch zu lernen. 

 Sozialwohnung im Jüdischen Viertel

Unter der Nazibesatzung unter der Führung von Adolf Eichmann wurde das Viertel zum Ghetto, mit dem Ziel, die jüdischen Anwohner in Vernichtungslager zu deportieren.  Kurz vor Kriegsende sah sich das Horthy Regime jedoch durch den wachsenden internationalen Druck und das aktive Engagement neutraler Staaten veranlasst, Deportationen aus dem Viertel zu stoppen.  Örtliche Diplomaten, wie der Schwede Raoul Wallenberg, gewährten vielen weiteren Personen Schutz. Heute bietet das Quartier ein gemischtes Bild. Die jüdische Gemeinde hat sich in drei verschiedene Glaubensrichtungen auseinanderentwickelt. Rund 60.000 bis 70.000 Juden leben in Budapest. Die Zahl der aktiv praktizierenden Juden ist deutlich kleiner. Es ist ein Trend zu beobachten, den man z.B. auch in Kazimierz, dem jüdischen Viertel von Krakau, beobachten kann. Das Elisabeth-Viertel wird zunehmend zum hippen Ausgehquartier, in die Abbruchhäuser nisten sich Kneipen ein, abends herrscht hier ein munteres Treiben. Doch etliche Einwohner wohnen in erbärmlichen Verhältnissen. Die Sozialwohnungen verfallen oder werden privaten Investoren überlassen. Die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf.

Die große Synagoge

Fast schon am Ende meines Rundlaufs stehe ich vor der Großen Synagoge in der Dohány Straße. Mir gefällt, wie die filigrane Ornamentik dem Backsteinbau eine besondere Würde verleiht.  Gleich neben der Synagoge steht das Geburtshaus von Theodor Herzl, dem großen Zionisten und Wegbereiter eines eigenständigen jüdischen Staats. Ich laufe weiter, überquere den belebten Astoria Platz und biege in die Semmelweis-Straße ein. Der Name würdigt den ungarischen Gynäkologen, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ursachen des Kindbettfiebers entdeckte und vielen Müttern fortan das Leben rettete. Ignaz Semmelweis war nur ein paar Jahre älter als Karoly Kamermayer. Beide gehörten einer Generation an, die ihrem Land und ihrer Stadt durch ihr visionäres Schaffen besonderen Glanz verliehen. Budapest zehrt noch heute davon.