Mit Opa durch Hilversum

(Aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Rosenmarkt Hilversum

Rosen und Gemüse
Marieke liebt nicht nur Rosen, sondern ist auch eine begeisterte Gemüsepflanze. Fröhlich stopft sie blanchierten Broccoli und Blumenkohl, Möhrchen, Süßkartoffelchips oder Gurkenstückchen in ihr kleines Mäulchen. Kaum sichtbar blitzen die ersten Zähnchen aus dem Unterkiefer.  Also muss Marieke das ganze Gemüse zwischen ihren zahnlosen Kiefern zermalmen. Das ist mit ihren neun Monaten eine gehörige Anstrengung. Wenn ich jetzt schon mein drittes Gebiss hätte, könnte ich es herausnehmen und mit ihr um die Wette malmen. Aber Marieke geht es gar nicht um Geschwindigkeit, sondern um Genuss. Also bitte nicht ungeduldig werden, Opa!

Meine Enkelin hat in Wirklichkeit einen anderen wunderschönen Namen. Aber „Marieke“ gefällt mir als Pseudonym für eine echte halbe Niederländerin besonders gut.

Radio Hilversum
Bis also alles aufgegessen oder auf dem Boden verteilt ist und wir zum Spaziergang durch Hilversum aufbrechen, dauert es noch eine kleine Weile. Da kann ich noch schnell erzählen, was es mit Hilversum eigentlich auf sich hat. Dafür müssen wir uns für einen Moment in die 1960er und 1970er Jahre, also in die gute alte Zeit der Mittelwellensender, zurück versetzen. Die heißesten Songs der Beatles und Rolling Stones, die Rock n‘ Roll Nummern von Little Richard oder Chuck Berry hörten wir damals auf MW-Piratensendern. Radio Nordsee International, Radio Veronica oder Radio Caroline hießen die Sender, die auf kleinen Booten in internationalen Gewässern vor der Küste Hollands kreuzten.  Dabei rauschte und knisterte es immer ganz fürchterlich, aber das lag wohl am Wellengang und vermittelte das Gefühl von verbotenem Abenteuer.

Radio Hilversum war damals auch so ein europaweit bekannter Mittelsender, aber einen Tick bürgerlicher, denn Hilversum hatte einen festen Platz auf der Senderskala der großen alten Rundfunkgeräte. Hilversum klang für mich immer so ein bisschen wie Universum. Das lag überall und nirgendwo.  Deshalb habe ich lange nicht geahnt, dass Hilversum tatsächlich eine ganz reale Stadt mit heute 90.000 Einwohnern in der niederländischen Provinz Noord-Holland ist. 1985 wurden die Mittelwellensender europaweit abgeschaltet. Hilversum aber ist bis heute die Medien-Stadt der Niederlande und Sitz zahlreicher Fernseh- und Radiosender.

Hundeparadies im Gooiland

Die Entdeckung von Hilversum habe ich Marieke zu verdanken. Oder eigentlich ihren Eltern, die früh erkannt haben, dass Hilversum ein Ort mit hoher Lebensqualität ist, bequem zwischen den Arbeitsplätzen in Utrecht und Amsterdam liegt und noch dazu eine direkte Zugverbindung nach Berlin hat. Im Land mit der größten Bevölkerungsdichte Europas liegt Hilversum verblüffenderweise inmitten von weiten Heidelandschaften, dichten Wäldern, bunten Wiesen und blauen Seen.

Alles Käse
Jetzt sind wir endlich startklar für unseren Spaziergang durch die adrette Innenstadt von Hilversum. Wegen Corona wird auf den rotgepflasterten Wegen immer wieder an die Abstandsregeln erinnert: „Welkom, houdt 1,5 meter afstand“. Das verstehen selbst wir. Die Niederlande gelten derzeit als sog. Hochinzidenzgebiet. Und doch herrscht auf dem Samstagsmarkt so munteres Treiben, dass wir uns schnell von der entspannten Stimmung anstecken lassen. Manche Einheimische tragen zwar Alltags- oder gar OP-Masken. Doch mit unseren FFP 2-Masken fallen wir genauso aus dem Rahmen, wie wenn wir mit Fahrradhelm durch Holland radeln würden.

Holland Kaascentrum

Unseren ersten Halt machen wir beim Käse. Man braucht eigentlich nur in die Nähe der großen gelben Räder zu kommen, und schon setzt der Kaufrausch ein. Der Händler gibt uns die freundliche Empfehlung, dass nicht nur der holländische Käse Spitzenklasse, sondern auch der französische (!) Morbier hervorragend zum Raclette-Essen geeignet sei. 

Als nächstes besuchen wir den Tulpenstand. Meine blumenvernarrte Gattin kauft mit Wonne jene hochgezüchteten Gewächse, deren Blütenblätter so ausgefranst sind, als hätte sie jemand mit einer Nagelschere traktiert. Marieke ficht das alles nicht an. Halb schlafend, halb dämmernd hat sie ihre blaue Mütze tief über die Augen gezogen und nuckelt an ihrer blauen Wassertasse. Im ebenso blauen Wolloverall liegt sie als gelungene Gesamtkomposition im roten Kinderwagen.

Beim Fischstand gibt’s dann kein Halten mehr. Roher frischgefangener Hering an Zwiebelwürfeln mit sauren Gurkenscheiben, serviert auf silberglänzenden Pappschalen: Umsonst gelebt, wer hier nicht zugreift! Alle essen im Stehen, die nahegelegenen Bänke sind wegen Corona abgesperrt.  

Haring mit Fähnchen

Dudoks Vermächtnis
Wer genau hinschaut, bemerkt in Hilversum eine prägnante architektonische Handschrift. Willem Marinus Dudok war von 1915 bis 1954 zunächst Direktor der Stadtwerke und später Stadtarchitekt von Hilversum. In dieser Zeit hat er in seinem zeitlos schlichten Stil bemerkenswerte Bauwerke geschaffen, die bis heute Bestand haben: Arbeitersiedlungen, Schulen und Sportstadien bis hin zum überregional bekannten Rathaus von Hilversum.

Marinus Dudoks Rathaus von Hilversum

Auf dem Heimweg laufen wir am Café Dudok vorbei. Der Wirt schrubbt gerade die Terrasse, weil die Öffnung der Außengastronomie kurz bevorsteht. Außerdem ist in wenigen Tagen Koningsdag. Bis dahin soll alles wieder schön sein  – so wie es früher einmal war!

Hoffen auf bessere Zeiten

Ein Kommentar

  1. Marie Sigrist · Mai 13, 2021

    Was für ein schöner Artikel!!

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