Licht und Schatten: Ein Lauf durch Krakóws Geschichte

Marktplatz Rynek Glowny mit Tuchhalle

Rundlauf durch Altstadt und Kazimierz-Viertel: Josefa Sarego, Planty, Barbakane, Florianstor, Florianska, Marktplatz Rynek Glowny, Grodzka, Maria Magdalena Platz, Kanonicza, Wawel, Weichselufer, Weg des Heiligen Stanislaw,  Paulinerkloster, Ulica Skalezna, Augustianska, Swietej Katarzyny, Josefa, Nowa, Plac Nowy, Izaaka,  Jakuba, Josefa, Bartosza, Szeroka, Remu Synagoge, Miodowa, Podbrzezie, Brzozowa, Dietla, Josefa Sarego;  6 km.

6 km Kraków gegen den Uhrzeigersinn

Joggen ist in Kraków (deutsch: Krakau) ein beliebter Frühsport. Entlang der Weichselauen geht es beliebig weit nach Süden oder Norden. Populär ist auch die 4 km lange Route im Grüngürtel rund um die Altstadt. Planty nennen die Krakauer diese grüne Oase, in der einst die Stadtmauer verlief. Ich entscheide mich für den historischen Königsweg mitten durch die Altstadt und verbinde ihn mit einer Erkundung des alten jüdischen Viertels Kazimierz.

Mein Lauf beginnt im gut bürgerlichen Stadtviertel Stradom, südöstlich der Altstadt. Alter Baumbestand säumt die  Häuserfassaden aus der Gründerzeit. Bis zum Grüngürtel Planty ist es nur ein Katzensprung.Die Menschen beginnen den Tag auf ganz verschiedene Weise: Studenten traben entspannt ihre Runden,  Berufstätige machen sich mit zügigen Schritten auf zur Arbeit, und manch einer schläft noch fest eingemummelt auf einer Parkbank.  Die Bäume zeigen schon eine herbstliche Färbung, der Asphaltboden glänzt vom Regen der Nacht.  Hier und da stehen Elektroroller herum, denn auch Krakau ist von dieser neuen Welle nicht verschont geblieben. 

Auf dem Königsweg
Nach einem guten Kilometer Parklandschaft stoße ich am nördlichen Ende der Altstadt auf einen kreisrunden Wehrbau, genannt Barbakane.  Ende des 15. Jahrhunderts wurde er zusammen mit dem benachbarten Florianstor als Teil der Stadtmauer errichtet. Über diese Anlage betraten polnische Könige und Fürsten seit jeher die Stadt, durchquerten sie mit ihrem Gefolge von Nord nach Süd und gelangten so auf den Wawel, den Sitz  polnischer Königsdynastien, majestätisch auf einem Hügel hoch über der Weichsel gelegen.

Musiker grüßen am Florianstor

Jahrhunderte später folge ich den königlichen Spuren und erlebe die noch weitgehend intakten Gotik-, Renaissance- und Barockfassaden dieser über 1000 Jahre alten Stadt, die schon 1978 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Doch die Zeitläufte sind auch in Krakau, das inzwischen zum Touristenmekka Nummer 1 in Polen aufgestiegen ist, nicht spurlos vorüber gegangen.  Nett ist, dass man am Florianstor (allerdings erst später am Tag, wenn die Touristen hereinströmen)  sogleich von Straßenmusikanten begrüßt wird. Weniger beeindrucken die zahlreichen Fast-Food-Restaurants. Kurios sind dagegen die vielen Kebab-Stände, denn sie werden augenscheinlich nicht von türkischen Dönerspezialisten, sondern von Einheimischen betrieben. Angesichts der vielen trinkfreudigen Wochenendtouristen überrascht die Dichte der Bierhäuser dagegen nicht.

Am  frühen Morgen aber schlafen die Touristen noch, der große Marktplatz Rynek Glowny  ist fast menschenleer und die Tauben haben den Platz fast ganz für sich. Die beiden ungleichen Türme der Marienkirche ragen steil in den rötlichen Morgenhimmel. Würde man hineingehen, gäbe es den Hauptaltar des Nürnberger Bildhauers Veit Stoß zu bewundern, doch das Werk aus dem 15. Jhd. wird gerade restauriert. Ebenso empfehlenswert wie sportlich ist der Aufstieg hinauf auf den Turm, denn von oben hat man einem grandiosen 360 Grad Blick über die Stadt.  Bei klarem Wetter reicht er nach Nordosten bis hin zum einstmals größten Stahlwerk der Welt in Nowa Huta. Die Kommunisten bauten für die Arbeiter des Werks eigens eine neue Stadt.  Der große sozialistische Zukunftstraum ist zwar geplatzt. Doch als innovatives Stadtentwicklungskonzept bleibt Nowa Huta bemerkenswert. Das Stahlwerk backt inzwischen kleinere Brötchen und gehört nun zum ArcelorMittal Konzern.

Tauben an Marienkirche

Tuch, Salz und Bunzlauer
Ich bleibe heute Morgen  am Boden und jogge an der im Renaissancestil erbauten Tuchhalle, die mitten auf dem großen Marktplatz steht,  vorbei. Lange galt sie als eine der wichtigsten Handelsplätze Mitteleuropas, weil Krakau zentrales Drehkreuz der mittelalterlichen Handelsrouten war.  Reich geworden sind die Krakauer mit Tuch, Leder, Salz und Bernstein. Heute findet man unter den Souvenirs vor allem das hübsche blau-weiße Bunzlauer Geschirr, das allerdings inzwischen in vielen weiteren Farb- und Geschmacksvariationen angeboten wird.     

Bunzlauer weiß blau

 Geld wird auf dem Rynek Glowny  jedoch nicht nur mit Geschirr, sondern auch mit Kutschfahrten verdient. Später am Tag werden auf dem Marktplatz wieder die schneeweißen Kutschen mit ihren prächtig heraus geputzten Haflingern in Reih und Glied stehen. Auf den Kutscherpritschen werden hübsche junge Damen Platz nehmen und um die Gunst der Touristen buhlen. Wenn es dann aber bei Antritt der Fahrt ernst wird, haben die Männer wieder die Zügel in der Hand.


Männer dominieren auch auf den großen Plakaten, mit denen die Parteien für die bevorstehenden Parlamentswahlen werben. Die Zeichen stehen ganz auf Wiederwahl der regierenden nationalkonservativen PiS Partei.  Sie wirbt mit dem schlichten Slogan: „Jaroslaw GO WIN“. Jaroslaw Kaczyński, der Chef der Partei  für „Recht und Gerechtigkeit“ scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.[i]  Die großzügige  Sozial- und Familienpolitik der PiS ist populär. Dass aber die Partei ihre Macht im Staat immer weiter ausbaut, wird von den Wählern weniger kritisch als von ausländischen Beobachtern wahrgenommen.  

Männer für den Sjem

Kirche und Familienwerte
Die PiS fordert auch immer wieder Reparationszahlungen von Deutschland ein. Gänzlich verwundern solche revanchistischen Gedanken auch 80 Jahre nach Kriegsbeginn nicht.  So erfährt man auf dem Marktplatz von Krakau, dass die Nazis den Platz nach dem Überfall auf Polen 1939 in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannt hatten.  Und im nahegelegenen Auschwitz und Birkenau wird daran erinnert, dass Nazideutschland in Polen nach Schätzung von Historikern über 5 Mio. Menschen, davon 3 Mio. Juden umgebracht hat.  

Ich laufe nun weiter auf der Grodzka Richtung Süden. Zahllose Kirchen, Kapellen und Klöster säumen den Weg. Fast 90 soll es davon in Krakau geben. Und fast 90 % aller Polen bezeichnen sich als Katholiken. Ganz offensichtlich spielt die katholische Kirche im Leben der Menschen eine wichtige Rolle. Und dies trotz oder wegen der fast 45 Jahre währenden Herrschaft der Kommunisten. Denn in den Monaten vor dem Regimewechsel im Jahr 1989 waren die Kirchen der zentrale Ort des passiven Widerstands.

Während ich die Grodzka weiter herunterlaufe, sehe ich schon von weitem die zwölf Apostel. Sie stehen überlebensgroß vor der Peter-und-Paul-Kirche am Rande des Maria Magdalena Platzes. Zufall oder Referenz an die geheimnisvolle dreizehnte Jüngerin Jesu?  

Jesuitenkirche Peter-und-Paul

Beim Anblick der Peter-und-Paul-Kirche fühlt man sich sofort an Rom erinnert, denn die Ende des 16. Jhd. erbaute Barockkirche ist ein Nachbau der nur kurz zuvor errichteten Kirche Il Gesù. Die römische Version ist das Mutterhaus des von Ignacio von Loyola gegründeten Jesuitenordens. Der Krakauer Bau wirkt nicht weniger unbescheiden.

Wojtyla und Kopernikus
Nur wenige Meter weiter, in der Kanonikergasse, eine der ältesten und schönsten Straßen Krakaus, erinnert ein großes Foto an den Mann, der hier lange residierte und später zum weltweit einflussreichsten polnischen Katholiken aufstieg. Die 1978 erfolgte Wahl Karol Wojtylas zum Papst war eine Sensation.  Viele Historiker und Zeitzeugen sind der Meinung, dass seine sanfte aber entschiedene Freiheitsbotschaft an die polnischen Katholiken den Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen einläutete. Millionen von Menschen besuchten seine Pastoralmessen in Polen, obwohl die Behörden alles taten, um genau das zu verhindern. Krakau feiert seinen berühmten Sohn bis heute mit Statuen, Fotos und Memorabilien an allen Ecken der Stadt.

Da gerät fast in Vergessenheit, dass Krakaus Universität einige Jahrhunderte zuvor mit Nikolaus Kopernikus einen Wissenschaftler hervorgebracht hat, dessen Wirken nicht minder  revolutionär war.  Entgegen der damals herrschenden Weltanschauung wies er nach, dass sich die Erde um die Sonne dreht  –  und nicht umgekehrt. Eine Fußnote der Geschichte ist, dass die katholische Kirche die Erkenntnisse von Kopernikus bis ins 18 Jhd. negierte und seine Arbeiten auf den Index stellte.

Jan Pawel II. to go

Inzwischen bin ich etwas atemlos oben auf dem Wawel Hügel angekommen.  Mit der Statue des Johannes Paul II. grüßt hier ein inzwischen schon alter Bekannter. Ihm direkt gegenüber steht die Kathedrale, in der sich die polnischen Könige – übrigens auch noch nach dem Umzug der Hauptstadt von Krakau nach Warschau im Jahr 1596 – krönen und bestatten ließen. Über einen Seiteneingang gelangt man in die Krypta, in der der am 10. April 2010 bei dem Flugzeugabsturz von Smolensk verunglückte Präsident Lech Kaczyński zusammen mit seiner Frau Maria Helena beigesetzt wurde. 86 weitere polnische Würdenträger flogen damals mit in der Unglücksmaschine, um im nahegelegenen Katyn der Ermordung polnischer Offiziere durch die Rote Armee zu gedenken. Der Präsident erhielt seine Ruhestätte bemerkenswerterweise in der Königsgruft. Sein Zwillingsbruder  Jaroslaw  ist seitdem Polens neuer starker Mann.   

Völkermord in Krakau  
Ich laufe nun an der Südseite des Wawel  über ein paar steile Stufen bis zum Ufer der Weichsel hinunter und steuere quer durch die Gärten des Paulinerklosters auf das ehemals jüdische Kazimierz Viertel zu. Benannt nach dem im 14. Jhd. regierenden König Kasimir dem Großen, lebten hier lange Juden und Christen trotz mancher Übergriffe einigermaßen friedlich nebeneinander. Später wurde der Ort eingemeindet und Juden erhielten in ganz Krakau freies Wohnrecht. So wurde Krakau nach Warschau zu einem der bedeutendsten jüdischen Zentren in Polen. Kazimierz aber verfiel, und es blieben nur noch ärmere Juden zurück. Bis 1939 lebten in Krakau rd. 65.000 Juden, etwa ein Viertel der damaligen Stadtbevölkerung. Heute wird ihre Zahl auf unter Tausend geschätzt.

„Empress of Beauty“: Helena Rubinstein aus Kazimierz

Auf den ersten Blick wirkt Kazimierz immer noch ein wenig herunter gekommen. Von manchen Fassaden bröckelt der Putz.  Ich laufe durch Straßen, die jüdische Namen wie Jakob, Josef und Isaak tragen. Ich sehe auch, wie einige der alten Synagogen renoviert und offenbar wieder als Gotteshäuser genutzt werden. Straßen werden aufgebuddelt, um neue Versorgungsleitungen zu legen. Edle Geschäfte und stylische Kneipen öffnen ihre Türen. Im Viertel tut sich etwas.  Kazimierz wird Zug um Zug renoviert und ist zum Ausgehviertel von Krakau geworden. In den Kneipen wird der  Klezmer jetzt für die Touristen gespielt.

An einer Hauswand entdecke ich ein auffälliges Porträt: Ein Frauengesicht mit einer durchsichtigen Binde über den Augen. Eine Plakette klärt auf: Das ist Helena Rubinstein, die weltweite Ikone der Schönheitsindustrie. Sie ist in Kazimierz geboren – und rechtzeitig vor dem Holocaust ausgewandert.  

Unweit der großen alten Synagoge in der Szeroka Straße stoße ich eher zufällig auf eine fast schon verblichene Inschrift, die in polnischer, hebräischer und englischer Sprache auf Backsteinmauern gemalt wurde: „In Memory of the Bosak Family, Residents of Kazimierz, 1633-1941“. Mit diesen schlichten Worten wird an die Ermordung einer jüdischen Familie in Kazimierz erinnert. Alle Juden in Krakau wurden ab 1939 von den Nazis systematisch verfolgt, in das Getto Podgórze am anderen Ufer der Weichsel verbracht, erschossen oder in Arbeits- und Vernichtungslager deportiert. Steven Spielberg erinnert mit seinem Film „Schindlers Liste“ an ihr Schicksal, gleiches tut ein gut dokumentiertes Museum in den Räumen der nahegelegenen Emailfabrik Oskar Schindlers.

Stilles Gedenken

Hoffnung Europa
Ein paar Straßenecken weiter bin ich wieder im gut bürgerlichen Viertel von Stradom angelangt. Zum Frühstück nun ein Cappuccino. Was aber bleibt hängen? Die Erinnerung an Straßen, Wege und Plätze voller Geschichten, an einen unvergleichlichen Völkermord, an leidgeprüfte Menschen, die immer wieder aufgestanden sind, und an eine engagierte junge Bevölkerung, die trotz oder vielleicht gerade wegen der wiederholten Übergriffe der Nachbarländer wie kaum eine andere an ihre Zukunft in Europa glaubt.


[i] Bei den Parlamentswahlen am 13.10.2019 wird die konservative PiS-Partei wieder mit Abstand stärkste Kraft und kann ohne Koalitionspartner weiter regieren. Wenige Tage zuvor wird Olga Tokarczuk, eine starke aufklärerischen Stimme Polens, der Nobelpreis für Literatur verliehen.