Mailand – Streifzüge mit Überraschungen 


Unter dem Schutz der Madonnina
Ich kann mich gar nicht satt sehen an den Mailänder Selfie-Schönheiten. Sie posieren so wunderbar selbstverliebt auf der großen Piazza vor der prächtigen Marmorfassade des Mailänder Doms. Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien, augenscheinlich aus allen Teilen der Welt, haben sich an diesem schon kühlen Novemberwochenende ganz friedlich auf dem Domplatz zum Fotoshooting versammelt.

Ausnahmsweise keine Ukraine-, Israel- oder Palästinenserdemo, sondern viele friedliche Menschen auf einem Fleck. Sicherheitshalber laufen auch ein paar Carabinieri in ihren feschen Uniformen herum, und in einer Ecke des Platzes zeigen Soldaten in Kampfuniform Präsenz. Die freundlichen jungen Männer sehen aber eher wie Models der italienischen  Armee aus, als dass sie ernsthaft jemandem ein Haar krümmen wollten.

Über allen und allem schwebt hoch oben auf der Spitze des Domes die „Madonnina“, wie sie die Milanesi liebevoll nennen, die vergoldete Santa Maria Nascente, nach der auch der Dom benannt ist. Seit gut 250 Jahren fährt sie nun schon in den Himmel auf. Eigentlich sollte die Schutzpatronin der Stadt für alle Ewigkeiten die Höhe aller Mailänder Gebäude begrenzen, doch dann setzte auch in Mailand der Wolkenkratzerboom ein. Was tun, wenn die Hochhäuser nunmehr den Dom überragen? Der Allianz Tower im Mailänder CityLife Stadtteil ist inzwischen das höchste Gebäude der Stadt. Die Madonnina überragt er um mehr als hundert Meter. Die Architekten haben, so wird erzählt, eine „italienische“ Lösung gefunden. Sie haben eine Replika der Madonnina auf den Allianzturm platziert und so die alte Himmelsordnung wieder hergestellt.   

Blick von den Domterrassen auf die Mailänder Skyline und Alpen

Doch verweilen wir noch einen Moment im Dom. Ende des 14. Jahrhunderts wollte sich die einflussreiche Adelsfamilie der Viscontis mit dem Kirchenbau ein unübersehbares Denkmal setzen. Doch bis alles fertig war, hat es mehr als 500 Jahre gedauert. Deshalb diente der Dom auch späteren Machthabern als nützliche Bühne der Selbstinszenierung.  Napoleon Bonaparte nutzte den Dom zwar zunächst als Pferdestall für seine Invasionstruppen, ließ dann aber wichtige Bauarbeiten an der Kirche ausführen. 1805 krönte er sich schließlich im Dom zum König von Italien. Dafür beschaffte er sich eigens die legendäre „Eiserne Krone“ der Langobarden aus dem nahegelegenen Monza.

Der Überlieferung nach wurde in dieser Krone ein eiserner Nagel von der Kreuzigung Christi verarbeitet, deshalb erfreute sich die Krone über Jahrhunderte größter Wertschätzung. Auch Karl der Große ließ sich im Jahr 774 die Eiserne Krone aufs Haupt setzen. Wie bei vielen Reliquien ist die Geschichte der Krone zu schön, um wahr zu sein. Italienische Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass der vermeintliche eiserne Christusnagel tatsächlich aus Silber und deutlich jüngeren Datums ist. Aber Reliquien haben oft wenig mit der Wahrheit zu tun. Man muss einfach an sie glauben. Und als Touristenmagnet sind sie seit ihrer Erfindung auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Darauf hat schon der Mailänder Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco mit feiner Ironie in seinem Roman Baudolino hingewiesen. 

Es zieht sich durch die Geschichte des Abendlandes, dass weltliche Führer allzu gerne der Versuchung erliegen, ihren Machtanspruch mit kirchlichem Segen zu untermauern. Es überrascht deshalb nicht, dass auch Benito Mussolini – inzwischen sind wir im 20. Jahrhundert angekommen – den Mailänder Dom zu propagandistischen Zwecken nutzte. Während seiner Regierungszeit wurde die Domfassade im neo-gotischen Stil vollendet. Ihre ästhetische Vollkommenheit sollte auch die Einzigartigkeit des faschistischen Regimes unterstreichen.

Kunstvolle Strebebögen sichern die Statik des Doms

Heute ist der Mailänder Dom die drittgrößte Kirche der Welt. Ob man nun der Institution Kirche treu ist oder ihr kritisch gegenübersteht – der Kirchenbau ist ein gotisches Meisterwerk! Die Architekten haben es geschafft, die Statik scheinbar zu überlisten. Das lässt sich am besten bei einem Spaziergang auf dem Dach des Doms erkennen: In Abkehr von den klobigen Gemäuern und kleinen Fenstern romanischer Kirchen gelang es den Baumeistern mit Hilfe äußerer Stützpfeiler und Strebebögen große Kirchenfenster zu ermöglichen und den riesigen Kirchenraum mit natürlichem Licht durchfluten zu lassen. Das Spiel der Sonne mit den Glasmalereien biblischer Szenen erzeugt dabei eine besondere spirituelle Atmosphäre.

Eleganz hat ihren Preis: Galleria Vittorio Emanuelle II

Die Macht der Mode
Kirche und Macht, das haben wir gesehen, ziehen sich gegenseitig an. Doch Mailand ist auch Wirtschaftsmetropole und Trendsetter in der Welt der Mode. Hier stehen weithin sichtbar die größten und höchsten Bankhäuser Italiens, aber wer weiß (in Deutschland) schon, dass das Bankhaus Intesa Sanpaolo nach der Bilanzsumme das größte italienische Kreditinstitut ist?  Die Modefirmen Armani, Gucci, Valentino oder Versace, um nur einige zu nennen,  aber kennen vermutlich alle, die gerne Schaufenstershoppen gehen und sich vom schönen Schein allzu gern verführen lassen.

In Mailands Modeviertel sind alle großen Namen präsent. Wir schlendern durch die überdachte Passage der eleganten Galeria Vittorio Emanuele II und spielen das alte Spiel  „Wer hat das schönste Schaufenster“?  Ich entscheide mich für den jungen Herrn mit weißem Jackett und schwarzer Hose von Prada. Er sitzt ganz cool in einem silbrigen Trichter, der mich an ein Düsentriebwerk erinnert. Hoffentlich springt es nicht gleich an.

Der Prada-Mann

Man kann es auf dem Foto kaum erkennen, aber Mann trägt in Mailand nun Hosen, die eigentlich zu kurz sind. Wie bei den Damen kommen damit die männlichen Fesseln besser zur Geltung, deshalb sollte der Schuh elegant und gerne etwas hochpreisiger sein.  In Mailands Boutiquen findet sich dazu die richtige Auswahl. Ein paar Straßenecken weiter treffen wir passend zum Prada-Mann die im ähnlichen Outfit gekleidete Prada-Frau.  

Wir wandern durch die eleganten Straßen rund um die Via Monte Napoleone und Via della Spiga. Hier reiht sich eine exquisite Modeboutique an die nächste. Es fällt auf, dass etliche Schaufenster gerade umgebaut werden. Es muss offenbar immer wieder etwas Neues her, denn der Wettbewerb unter den Modeschöpfern ist groß.

Eher zufällig gelangen wir in den Innenhof eines ehemaligen bischöflichen Palazzos und erleben eine kleine Überraschung! Inmitten der Piazza Quadrilatero steht ein quadratischer fensterloser Tempel mit beigefarbenen Außenwänden. Neugierig laufen wir um das Gebäude herum und entdecken rechts und links vor dem Eingangsportal zwei Damen, gekleidet in beigefarbene Teddymäntel. Über der Tür steht der Firmenname. Jetzt begreifen wir, es sind die Türsteherinnen des Max Mara Tempels. Sie sehen so elegant aus, dass wir, eher rustikal bekleidet, uns nicht trauen einzutreten. Aber wir werden die Teddys wiedersehen!

Wenn man so durchs Mailänder Modeviertel spazieren geht, drängt sich die Frage auf, wer im internationalen Modegeschäft eigentlich die Nase vorn hat?  Das Internet offenbart dazu ein paar Überraschungen. Weltweit wertvollstes Bekleidungsunternehmen ist der breit aufgestellte französische Luxuskonzern LVMH Moet Hennessy Louis Vuitton mit einem Jahresumsatz von rd. 51 Milliarden USD (2020). Das ist keine Kleinigkeit!  Schon auf Platz drei folgt Adidas mit 22,6 Mrd. USD. Prada, das größte italienische Modeunternehmen, kommt auf „nur“ 3,3 Mrd. EUR.  Prada spielt wie Louis Vuitton oder Hermès in der Champions League. Das ist aber nicht zu vergleichen mit dem Massengeschäft.

Mit billig hergestellter Ware wird richtig viel Geld verdient!  In Europa hat die vermutlich nur Fachleuten bekannte spanische Textilgruppe Inditex mit einem Jahresumsatz von 23,6 Mrd. EUR (2022)  und einem Gewinn von beachtlichen 4,1 Mrd. EUR mit großem Abstand die Nase vorn.  Dahinter verbergen sich Labels wie Zara, Massimo Dutti und Bershka. Die in Deutschland bekannten Marken H&M und Zalando folgen in dieser Statistik mit einigem Abstand auf den Plätzen 2 und 3.  „Fast Fashion“ erlebt derzeit einen Boom. Doch das Geschäft mit trendiger Massenware hat auch seine dunklen Seiten. Denn die Wertschöpfungsketten sind intransparent, die Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern häufig sehr prekär und die Umweltbelastungen der Wegwerfmode erheblich.   

Doch zurück nach Mailand.  Am Abend sind wir im Ausgehviertel Brera unterwegs und gönnen uns in der bekannten „Jamaica Bar“ einen ersten Aperitif.  Um uns herum sind auffallend viele Duftboutiquen angesiedelt. Man kann sich hier alles Mögliche auf den Handrücken sprühen und hoffen, den richtigen Riecher zu haben. Vor einem Schaufenster bleibe ich wie gebannt stehen. Da ist er wieder, der beige Teddymantel! Die Dame in ihm testet ein Parfüm.  Ich bin jetzt doch neugierig und google wenig später nach dem Preis des Outfits: Für schlappe zwei bis dreitausend Euro ist das gute Stück schon zu haben. 

Auf der Suche nach dem besten Duft

Die Macht der Lust
Sonntagmittag kommt die Sonne raus und deshalb machen wir uns auf den Weg zu den Navigli. Da steckt das Wort navigare drin: Es handelt sich um die Kanäle von Mailand. Sie durchzogen einst die gesamte Mailänder Innenstadt. Bis heute ist Mailand über solche Kanäle mit dem Lago Maggiore und dem Lago de Como verbunden, und früher waren sie wichtige Transport- und Handelsrouten.  Nicht zuletzt wurde der grau-rosa Marmor für den Bau des Mailänder Doms aus dem rd. 100 km entfernten Candoglia über diese Kanäle herbeigeschifft.

Heute sind die Navigli ein munteres Ausgehviertel mit vielen Kneipen und Läden. Wir kehren auf gut Glück in der „La pizzeria Tradizionale“ am Naviglio Grande ein und sitzen gemütlich inmitten von  Mailänder Groß- und Kleinfamilien, denn sonntags bleibt bei der Mamma die Küche kalt. Auf dem Rückweg schlendern wir über den Corso di Porta Tricinese und auf der Via Torino, eine der älteren Einkaufsstraßen Mailands, zurück in die Innenstadt. Natürlich finden sich auch hier jede Menge sehenswerter Kirchen und Bauwerke, doch insgesamt hat diese Gegend wenig von der Noblesse des Modeviertels. Hier reihen sich Fastfoodketten und Billigoutlets für jeden Geschmack aneinander. 

Auf dem Corso di Porta Ticinese wartet eine auffallend große Schlange junger Menschen auf Einlass in einen scheinbar unscheinbarem Laden. Ich schaue durchs Fenster und beobachte, wie junge Damen in weißen Schürzen mit sehr langen Fingernägeln und sehr langen Wimpern bunte Gebäckstücke verkaufen.  Der Laden heißt „Mr. Dick“ und versteht sich als „La prima sexy pasticceria en Italia con dolci piu cool del momento“. Frei übersetzt, werden hier die süßesten erotischen Leckereien von ganz Italien angepriesen. Der Renner sind Waffeln in Penisform und Vulvas, ausgebacken zu zarten rosa Cupcakes.  Das ist allerdings Geschmackssache.

Mailänder Straßenkünstler

Die Macht im Staat: Giorgia Meloni vs. Elly Shein
Von Mailand aus haben wir unsere lombardische Verwandtschaft besucht. Und selbstverständlich wollten wir von ihnen wissen: Wie haltet ihr es mit Giorgia Meloni, der italienischen Ministerpräsidentin von der postfaschistischen Partei der Fratelli d‘Italia?  Ein gutes Jahr sei sie nun schon im Amt und habe ihre Drei-Parteien-Regierung relativ geräuschlos zusammen gehalten, wird uns berichtet. Bei so sperrigen Partnern wie Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega und Antonio Tajani von der konservativen Forza Italia sei das ein Erfolg, denn Regierungen in Italien halten im Schnitt nicht länger als 18 Monate. Nach einem Bericht von Bloomberg, einer US-Nachrichtenagentur, halten sich Melonis Zustimmungswerte, anders als bei ihren Vorgängern, auch nach 13 Monaten im Amt solide bei knapp 30%. Sie wird als self-made woman wahrgenommen, die niemandem außer sich selbst und engsten Beratern vertraue. Ihre Politik gilt als pragmatisch und ist trotz aller Wahlkampfrhetorik EU-freundlich, wohl auch, weil sie auf EU-Gelder angewiesen ist.  In der Migrationspolitik, das kann man auch in deutschen Zeitungen lesen,  folgt ihr inzwischen die gesamte EU auf dem Kurs, illegale Einwanderung stärker bekämpfen zu wollen.  Die Parteien der politischen Mitte, so sagen uns unsere Verwandten,  seien in Italien bedeutungslos geworden. Die linke 5-Sterne-Bewegung habe sich völlig diskreditiert. 

Eine neue Hoffnungsträgerin der linken Mitte könnte indes Elly Shein werden. Die Juristin mit US-amerikanischen, schweizerischen und italienischem Pass, war seinerzeit Wahlkampfhelferin Barack Obamas und wurde vor kurzem zur Präsidentin der italienischen Sozialdemokraten gewählt. Die erst 38-jährige Shein wird in den italienischen Medien als Anti-Meloni hochstilisiert. Zwei Powerfrauen, von denen sicher noch viel zu hören sein wird. Das ist neu in der italienischen Politik. 

Auf dem Weg zum Mailänder Flugplatz Linate steigen wir ein in die grüne Hölle. Die Wagen der kürzlich eröffneten U-Bahnlinie M 4  sind mit tropischen Dschungelbildern ausgeklebt.  Fai volare tuoi sogni, lass deine Träume fliegen, so lockt die Lufthansa und soll uns heute eigentlich ins gar nicht so tropische Frankfurt fliegen. Tatsächlich hat der Kranichflieger kürzlich den Kauf von zunächst 41% der ITA Airways beschlossen. Ziel ist offenbar, zahlungskräftige Mailänder Kundschaft über das Frankfurter Drehkreuz in alle Welt ausfliegen.  Mal schauen, ob das klappt.

Über einen großen Mailänder haben wir leider überhaupt kein Wort verloren. Leonardo da Vinci liegt im Mailänder Dom begraben, doch sein Genie ragt über alle Madonninas hinaus. Um ihn angemessen zu würdigen, wäre ein viel gewichtigerer Streifzug als dieser hier vonnöten.