Blüten, Sand und Störche – Eine Wanderung an Portugals Atlantikküste  

Unterwegs auf dem Fischerpfad

Rund 100 Treppenstufen sind es vom Klippenrand hinunter bis ans Wasser. Es ist Ebbe, der breite Sandstrand der Praia do Brejo Largo, hier und da durchbrochen durch Felsblöcke,  reicht bis fast an den Horizont. Schnell streifen wir die staubigen Wanderschuhe ab, laufen barfuß an der Brandung entlang und klettern in die nächste Bucht. Welch ein Glücksgefühl! Das Meerwasser reinigt den verschwitzten Körper, die Frühlingssonne wärmt die Glieder auf, die Atlantikbrise kühlt die Stirn. Ein Möwenschwarm lässt sich von unserem Freudentaumel nicht beeindrucken, kennt das alles schon länger, flattert nur kurz auf und setzt dann seine Muschelsuche fort.

Dünen, Klippen, Meer
Wir sind im südportugiesischen Alentejo auf unserer zweiten Etappe des „Fischerpfads“ – dem vielleicht schönsten Teil der „Rota Vicentina“ – unterwegs. Los ging es in Porto Covo, zwei Stunden Busfahrt südlich von Lissabon gelegen. Ziel unserer viertägigen Wanderung ist Odeceixe, ein Ort nahe der Mündung des Ceixe. Das Flüsschen bildet die Grenze zwischen dem Alentejo und der Algarve, Portugals bekanntester Urlaubsregion. Das Fernwanderwegenetz der „Rota Vicentina“ darf hingegen noch als Geheimtipp gehandelt werden, denn der Ausbau begann erst vor rund 10 Jahren. Bürgervereine in der Küstenregion des Alentejo haben sich vorgenommen, sanften Tourismus zu fördern. Das Projekt wird von der Europäischen Union großzügig unterstützt und von den Wandertouristen dankbar angenommen. So verläuft der Fischerpfad überwiegend durch den geschützten „Parque Natural do Sudoeste Alentejano e Costa Vicentina“. Rund 75 km mäandert der Weg durch Dünen, an Klippen hoch über dem Meer entlang, am Strand nahe der Brandung, durch Küstenwälder und bisweilen auch durch stacheliges Macchia-Gestrüpp. Gut die Hälfte der Strecke verläuft auf sandigen Wegen. Das ist mitunter mühsam. Doch wer Erholung ohne große Hotelanlagen, Fastfoodketten und Blechkarawanen sucht und zudem ein bisschen Anstrengung nicht scheut, ist hier richtig.

Jede Bucht ist anders

Das Wandern entlang der Küste wird zum Fest der Sinne:  Ständig haben wir das Rauschen der Brandung im Ohr, die salzhaltige Luft ist Labsal für die Nase, und die Wildblüten im Frühling sind eine wahre Augenweide. Die kleinen Küstendörfer mit ihren weiß getünchten Häusern, in denen wir am Abend Quartier finden, haben Charme, bieten hervorragende regionale Küche und werden fangfrisch von den örtlichen Fischern beliefert. 

Wildblumen soweit das Auge reicht

Rote Nelken für die Freiheit
Heute ist ein besonderer Tag, denn die Portugiesen feiern den 49. Geburtstag ihrer Nelkenrevolution. Der Aufstand begann just in unserer Wanderregion, im Alentejo, wo mittellose Landarbeiter gegen Großgrundbesitzer aufbegehrten. Am 25. April 1974 stürzten Offiziere den langjährigen Diktatur Antonio de Oliveira Salazar. Als die Putschisten Lissabon erreichten, steckten ihnen Frauen rote Nelken in die Gewehrläufe. Das war ansteckend, denn noch im gleichen Jahr wurde Griechenland (wieder) demokratisch, Spanien folgte drei Jahre später.

Was bedeutet den Menschen dieser Feiertag? Die Lissaboner Zeitung „Diário de Notícias“ schreibt, dass die Demokratie in Portugal auch nach fast 50 Jahren kein Selbstläufer sei.  Die Freiheit, so der Autor, ist ein Paradox, denn sie wird von denen bedroht, die sich die Freiheit nehmen, um sie zu bekämpfen. Somit muss sie beständig verteidigt werden.  

Auf der Suche nach einem besseren Leben
Als wir den Weiler Almograve erreichen, treffen wir auf auffallend viele junge Männer mit südasiatischen Gesichtszügen. Einige mit Turban, sie gehören offenbar der Glaubensgemeinschaft der Sikh an. Anders als wir tragen die Männer weder Rucksäcke, noch verschwitzte Wanderklamotten. Sie sitzen alleine oder in Gruppen zusammen, denn der 25. April ist auch für sie ein arbeitsfreier Tag. Viele telefonieren.

Wer sind diese Menschen, die hier offenkundig nicht zuhause sind?  Im Café „Sabores e Mar“, in dem sich am Nachmittag die Wanderer versammeln, bringt uns eine junge Frau, die nicht sehr portugiesisch aussieht, den Kaffee. Sie erzählt, dass sie gerade erst vor drei Wochen aus  Kathmandu eingetroffen sei. Der Kellner im „Mar Azul“, ein  nepalesisches Restaurant,  kommt aus dem südnepalesischem Chandrapur und hat dagegen schon vor acht Jahren im Restaurant seines Onkels angeheuert. Uns fällt auf, dass sich in den Dörfern auf unserem Weg etliche asiatische „Minimarkets“ angesiedelt haben. Hier stocken wir hier unsere Wanderverpflegung auf, doch das Warenangebot richtet sich eindeutig auch an eine asiatische Klientel. Was also machen die vielen Asiaten in dieser Gegend?

Arbeitsmigranten in Almograve

Der Kellner im Fischrestaurant „O Lavrador“ erzählt, dass die Männer in den „estufas“, den Gewächshäusern der Gegend, arbeiten.  Ein Blick auf Google Maps bestätigt, dass unweit vom Ort großflächig Tomaten, Obst und Waldbeeren angebaut werden. Nach ein paar weiteren Klicks im Internet wird klar: In Portugals Landwirtschaft arbeiten rund 50.000 Nepalesen und 200.000 Inder, viele davon im Alentejo, wo einheimische Arbeitskräfte fehlen. Hier entsteht eine neue Generation südasiatischer Landarbeiter, denn Portugals Früchteexport nach Nordeuropa – vor allem nach Deutschland – boomt. Der Strom der Zuwanderer in den Alentejo wird also weiter anschwellen. Begünstigt wird dies durch eine liberale portugiesische Einwanderungspolitik, aber auch durch Vermittler, die an den Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben mitverdienen. Der freundliche Ram hat seinen „Minimarket“ noch am späten Abend geöffnet. Ich frage den Nepalesen wie es ihm in Portugal gefällt. Er lächelt höflich und sagt, dass er mit seinen beiden Läden ein Auskommen habe. Risiken und Chancen der Arbeitsmigration liegen auch hier im Alentejo eng beieinander. Und ich weiß nun, wem ich die leckeren Heidelbeeren in meinem morgendlichen Müsli zu verdanken habe.    

Rüstige Rentner und Frauengruppen
Die Wanderung auf dem Fischerpfad ist ein multikulturelles Erlebnis.  Denn am Tage auf den Wegen und am Abend in den Cafés und Restaurants hören wir viel Munteres auf Italienisch, Englisch, Spanisch und natürlich auch auf Deutsch. Denn auch im Alentejo sind wir Deutschen die Wanderweltmeister. Holländisch hört man weniger, erst wieder in der Nähe der Campingplätze. Es sind, so scheint es uns, viele nette Leute unterwegs, junge Menschen, rüstige Rentner aus Nordeuropa, na klar, darunter viele Frauengruppen und Solowanderinnen. Und dann begegnen wir immer wieder der lachenden „Zeltstange“ und – wir nennen ihn einfach mal so – „Charles“. Die fröhliche Italienerin lässt ihre lässig im Rucksack verstaute Zeltstange weit in den Himmel ragen und jener eigenwillige Brite mit Rauschebart ist mit Bügelfaltenhose und Businesshemd unterwegs.  

Praia da Amália

Wer ist Amália?
An unserem vierten Wandertag sind wir irgendwo zwischen Zambujera do Mar und Odeceixe unterwegs. Hier an den Klippen an einem der schönsten Küstenabschnitte unserer Tour steht das Gästehaus Amália Rodrigues sowie ein Hinweisschild zur „Praia da Amália“.  Das hätte ich fast übersehen – ein schweres Versäumnis! Denn wir stehen vor dem Refugium der Sängerin Amália Rodrigues, für die Portugiesen die Ikone und Identifikationsfigur schlechthin. Amália – sie wird von Ihren Anhängern nur mit dem Vornamen genannt – wuchs in den 1920er und 1930er Jahren in ärmlichsten Verhältnissen in Lissabon auf und entwickelte sich mit ihrer einzigartigen Stimme zur bedeutendsten Fadosängerin des Landes. Sie wurde zum Vorbild für Generationen nachfolgender Künstlerinnen, die das Genre bis heute erfolgreich weiter entwickeln. Mariza, Ana Moura oder Cristina Branco, um nur einige zu nennen, nehmen mit ihren schönen melancholischen Stimmen die Menschen mit auf die Suche nach den Geheimnissen der menschlichen Seele.

Wir machen uns dagegen auf die Suche nach Amálias Strand. Durch dschungelartiges Gelände führt ein steiler Weg eine Schlucht hinab. Unten angekommen, erwartet uns eine wunderschöne und fast menschenleere Bucht. Wir spazieren über den Strand, tauchen ein in die eiskalten Wellen und spülen das Salz unter einem kleinen Wasserfall ab. Dann schnüren wir wieder die Wanderschuhe, erklimmen  die Klippen und laufen hoch oben über der Brandung weiter Richtung Süden.  Bis zum Leuchtturm des Cabo San Vicente, dem südwestlichsten Punkt Europas, sind es nur noch 50 Kilometer.

Störche nisten auf Klippen

Ciconia cinonia
„Den gibt‘s auch in Hessen“, wird uns später unsere neidische Nachbarin belehren. Die Rede ist vom großen Weißstorch, auch Klapperstorch genannt. Er nistet für gewöhnlich auf Schornsteinen oder Masten, seit ein paar Jahren auch wieder in deutschen Gefilden. An Portugals Atlantikküste aber bauen Störche ihre großen Nester auf Felsspitzen hoch über der Brandung, und das ist, wie Ornithologen versichern, einzigartig. Hier kann die Brut ungefährdet wachsen. Von Atlantikstürmen oder neugierigen Wander:innen lassen sich die großen Vögel nicht beeindrucken.

Ungebändigte Natur, Wind und Meeresrauschen – und die Freundlichkeit der Menschen, das sind die Highlights unserer Tour auf dem Fischerpfad. Es braucht nicht viel um zu begeistern. Die Macher der Rota Vicentina haben ihren Weg gefunden.

4-Tage-Wanderung von Porto Covo nach Odeceixe; Kartenquelle: Komoot

Informationen zu Wanderrouten, Unterkünften und Verpflegung finden sich u.a. hier: Rota Vicentina SW Portugal  sowie im Rother Wanderführer, Rota Vicentina, 2021

Einen Einstieg in die Welt der Fadomusik bietet die Dokumentation:  WDR KLASSIK: Wir alle haben Amália im Blut: Amália Rodrigues und die Fado-Szene | ARD Mediathek , 2022

Eine Reportage über asiatische Arbeitsmigranten in Portugal findet bei der Deutschen Welle: Arbeitsmigranten – asiatische Billigpflücker in Portugal | Global 3000 – Das Globalisierungsmagazin | DW | 25.04.2022

Budapest: Zurück zu alter Größe?

Ungarns museales Parlamentsgebäude

Laufrunde von Platz zu Platz in der Innenstadt von Pest: Kamermayer Karoly Szervita – Vörösmarty – Vigadó – Széchenyi István – Holocaust Memorial am Donauufer – Kossuth Lajos (Parlamentsgebäude) – Mahnmal des Miteinanders – Szabadság (Freiheitsplatz) – Szent István (St. Stephans Basilika) – Ungarische Staatsoper – Székely Mihály (Jüdisches Viertel) – Synagoge Kazinczy Straße – Große Synagoge Dohány Straße – Astoria – Semmelweis – Kamermayer; 6,6 km

Joggingroute durch Pest – (Karte ©Google Maps)

Es ist kein Zufall, dass ich beim Frühstück im gemütlichen Gerloczy Café im V. Budapester Distrikt endlich Karoly Kamermayer höchstpersönlich treffe.  Denn zuvor bin ich ihm auf meinem Morgenlauf durch Budapest schon mehrmals auf die Spur gekommen. Kamermayer wurde 1873 zum ersten Bürgermeister Budapests gewählt und blieb 23 Jahre lang im Amt. Die Stadt entstand aus der Vereinigung der westlich und östlich der Donau gelegenen Ortschaften Buda, Obuda und Pest. Kamermayer galt als integer und weitsichtig und legte die Grundlagen für eine moderne Stadtentwicklung. Er sorgte für Trinkwasser und Abwasserentsorgung, ließ Krankenhäuser und Markthallen errichten, setzte die erste Metro auf dem europäischen Festland auf die Schiene und bereicherte das kulturelle Leben durch den Bau der ungarischen Staatsoper. Unter seiner Amtszeit wurde Budapest zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren Europas. Seine Statue steht wenige Meter vor meinem Frühstückstisch.

Budapests Visionär

Prächtige Theaterkulisse
Doch nun zu meinem Lauf. Wer frühmorgens durch eine Großstadt joggt, trifft auf die üblichen Verdächtigen: Leute von der Stadtreinigung, Menschen, die zur Frühschicht eilen und ein paar ähnlich verrückte Sportler. In Budapest treffe ich an diesem Frühsommermorgen durch den Stadtteil Pest (ungarisch: Pescht) auf bemerkenswert viele Gassi-Geherinnen. Denn in Ungarn, dem Land der Hundefans, wohnt fast in jedem Haushalt ein Vierbeiner.  Aber Budapest hat natürlich mehr zu bieten.

Wie eine Theaterkulisse breitet sich die Stadt vor mir aus. Der Vorhang ist aufgezogen, die Straßen sind noch fast leer. Auf der Bühne sehe ich großzügige Plätze, barocke Kirchen, kunstvoll dekorierte Paläste aus der Blütezeit der K.u.k.-Monarchie, schöne Jugendstilfassaden neben ultraschicken Glasbauten aus der EU-finanzierten Moderne. Und immer wieder etliche mit Holzbrettern vernagelte Fenster – bröckelnde Schönheiten aus vergangenen Zeiten.

Early Birds vor der St. Stephans Basilika

Über die Innenstadt laufe ich zum Donauufer und stolpere auf dem engen Uferweg beinahe über die Angelleinen der Fischer. Fast lautlos gleitet eines dieser unendlich langen Flusskreuzfahrtschiffe vorbei.  Auf der anderen Seite des Flusses glänzt das historische Burgviertel in der Morgensonne. Wiener Tor, Matthiaskirche, Königsschloss – alles repräsentative Bauten aus der K.u.k.-Zeit. Aus dem Burgviertel ragen auffallend viele Baukräne hervor. Denn seit Jahren wird hier saniert. Etliche Gebäude entstehen ganz neu im alten Glanz.  Es wird viel Aufwand in die Restauration gesteckt.

Dann komme ich an die Stelle am Donauufer, wo die gusseisernen Schuhe stehen. Tags zuvor hatte ich Schulkinder beobachtet, wie sie versuchten mit ihren Füßen hineinzuschlüpfen. Dieses nette Bild entpuppt sich als Erinnerung an grausame Zeiten. Es sind Schuhe von Kindern, Frauen und Männern, die da am Donauufer stehen. Sie stehen für die Schuhe von Tausenden von Juden, die die Nazis 1944 zum Donauufer trieben und erschossen. Doch vorher mussten alle ihre Schuhe ausziehen.  

Die Schuhe am Donauufer

Erinnerungspolitik
An dieser Stelle muss ich vorgreifen und über ein Holocaust-Denkmal sprechen, was ich auf meinem Lauf erst später erreichen werde. Denn dieses andere Denkmal ist höchst umstritten. Auf dem Siegesplatz mitten im Zentrum Budapests wurde zum 70. Jahrestag der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 in einer Nacht-und-Nebel Aktion das „Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“ errichtet. Tags zuvor hatte der ungarische Touristenführer Ódor uns erklärt, was wir dort sehen sollen: In zentraler Position steht der Erzengel Gabriel mit dem Reichsapfel in der Hand. Gabriel symbolisiert das unschuldige Ungarn. Auf ihn herab stößt ein Höllenvogel mit brutalem Flügelschlag. Das ist der deutsche Reichsadler. Die Botschaft: Ungarn hat mit dem Einmarsch der Wehrmacht seine Souveränität verloren. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán bezeichnete die Skulptur als „makelloses Kunstwerk“. In Ungarn und auch international gab es dagegen Proteste. Der Historiker György Dalos ist der Auffassung, dass mit dem Mahnmal versucht wird, die Geschichte umzuschreiben. [1]  Kritiker des Denkmals leugnen keineswegs die Kriegsverbrechen der Deutschen in Ungarn, doch die 500.000 ungarischen Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, wurden unter dem damaligen Horthy-Regime auch mit tatkräftiger Hilfe der ungarischen Behörden und unter Duldung oder gar Mitwirkung breiter Bevölkerungsschichten vor Ort vertrieben und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Aus Protest vor der Leugnung der ungarischen Kollaboration haben private Initiatoren vor dem offiziellen Denkmal authentische Gedenkstücke ermordeter Juden ausgestellt. Wir sehen Briefe und Fotografien, Koffer und vereinzelte Kleidungsstücke. Zwischen diesem und jenem Denkmal rauscht auf einer engen Durchgangsstraße alle paar Sekunden ein Auto durch – ein verstörender Gesamteindruck.


[1] György Dalos, Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns. München 2022

Auf dem Siegesplatz: Erinnerungsstücke ermordeter Juden vor dem
„Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“

Das museale Parlament
Auf dem Weg zum Siegesplatz bin ich zuvor um das riesige Parlamentsgebäude am Donauufer herumgelaufen. Das dauert eine Weile, denn das Hohe Haus ist so breit wie die Länge von zweieinhalb Fußballfeldern. Die Vertreter des Volkes agieren in einem wahrhaft prächtigen Bau, der im Stil und aufgrund seiner Lage am Fluss an das britische Westminster erinnert. Die Parkanlagen rund um das Gebäude sind wunderbar gepflegt und werden von Männern in olivgrünen Uniformen bewacht. Als ich frohgemut an ihnen vorbeilaufe, grüßen sie freundlich zurück. Ich erinnere mich, dass der Touristenführer Ódor erklärt hatte, dass das Gebäude ursprünglich für ein Großungarn in den Grenzen vor 1920 gebaut worden war. Denn nach verlorenem Erstem Weltkrieg und mit dem Vertrag von Trianon musste Ungarn rund zwei Drittel seiner Gebiete vor allem an Rumänien, Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei abtreten. Über 100 Jahre später scheint das manchem nationalistisch gesinnten Politiker (wieder) zu schmerzen. So ist es kein Zufall, dass in der zentralen Sichtachse zum Parlamentsgebäude, in der Alkotmány Straße, Ministerpräsident Orbán erst vor zwei Jahren das „Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ einweihte. In der hundert Meter langen Steinrampe sind die Namen aller Ortschaften und Städte des einstigen Königreichs Ungarn in den Grenzen von 1913 eingemeißelt. Obwohl dieses Denkmal den gegenwärtigen Machthabern so wichtig ist, bin ich an der Rampe zunächst fast achtlos vorbeigelaufen, weil ich sie für die Einfahrt zu einer Tiefgarage hielt.  Erst beim näheren Hinsehen entdecke ich die über 12.000 Dorf- und Städtenamen.

„Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ 

Vom Ende der Rampe blicke ich zurück auf das Parlament und frage mich, wie es dort eigentlich im Innern zugeht. Nach meinem Lauf schaue ich mir deshalb die Ergebnisse der Wahlen vom April 2022 an.  Orbáns Fidesz-Partei, das steht für „Ungarischer Bürgerbund“, hat wiederum ihre Zwei-Drittel-Mehrheit behauptet, nun schon zum dritten Mal seit 2010.  Wie kriegt Orbán das immer wieder hin? Nun, er ist ein charismatischer Populist. Da kann ihm kaum einer das Wasser reichen. Er setzt auf die Stimmen in der Provinz. Nur in der Hauptstadt hat die Opposition die Nase vorn. Die öffentlichen Medien hat Orbán monopolisiert und die privaten Nachrichtenorgane unter die Kontrolle seiner politischen Freunde gebracht. Von Putin bekommt er für seine russlandfreundliche Politik billiges Gas und Erdöl und hält so die Energiepreise für die Bevölkerung niedrig. Der öffentliche Nahverkehr ist für Menschen ab 65 kostenlos. So bekommt er die Rentner:innen auf seine Seite.  

Ich will es gleichwohl noch genauer wissen und suche eine Tankstelle. Ende Mai 2022 kostete der Liter Superbenzin an Tankstellen des teilstaatlichen MOL-Konzerns umgerechnet rd. 1,25 Euro – da hatten die Benzinpreise in Deutschland schon die 2 Euro-Marke überschritten.  Und trotzdem macht MOL mit seinem Gas- und Ölgeschäft immer noch satte Gewinne, weil es den Rohstoff zu sehr guten Konditionen aus Russland bezieht. Die Dividenden, 2021 laut Geschäftsbericht immerhin 610 Mio. Euro, werden an Fidesz-treue Bildungsinstitutionen ausgeschüttet. Diese wiederum fördern Fidesz-treue Anhänger, wie die New York Times berichtet.  Aus Brüssel bezieht Orbán trotz wiederkehrender Korruptionsvorwürfe weitere Subventionen, mit denen er seine Klientel bedient. So läuft das System Orbán wie geschmiert. Weil im EU-Rat das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, hat auch dort Orbáns Stimme Gewicht. Im Streit um das EU-Ölembargo gegen Russland gelang es ihm fast nach Belieben Ausnahmeregelungen auszuhandeln.

Zurück ins Parlament. Seit Fidesz über die Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, finden keine wirklichen parlamentarischen Auseinandersetzungen mehr statt. György Dalos berichtet, wie sich die Fidesz-Mehrheit mit allerlei Verfahrenstricks und dem gezielten Einsatz des Rechnungshofes die Opposition vom Leibe hält und die Abgeordneten nur noch zu wichtigen Abstimmungen im Hohen Haus erscheinen.  Es scheint, als wäre das Parlament nun auch im Innern zu dem geworden, wie es von außen aussieht: Das prächtige Wahrzeichen einer erstarrten Demokratie.  

Zwei ungarische Helden: Szent István und Ferenc Puskás
 

Die Helden der Basilika
Kommen wir wieder zurück zum Freiheitsplatz, denn von dort ist es nur noch ein kurzer Lauf bis zur Stephans-Basilika. Besuchern werden gern zwei Geschichten erzählt. Die eine sagt, dass in der Kirche ein Stück Handknochen des Heiligen Stephan aufbewahrt wird.  Der Heilige Stephan, ungarisch: Szent István, wird als Staatsgründer Ungarns verehrt, weil er im 11. Jahrhundert erster König Ungarns war. Die zweite Reliquie ist der Leichnam des Ferenc Puskás. Dieser Name dürfte nicht allen Lesern geläufig sein. Puskás muss in einem Atemzug mit Namen wie Beckenbauer, Cruyff oder Di Stéfano genannt werden. Denn er gehörte in den 1950er und 1960er Jahren zu den besten Fußballspielern der Welt und war Kapitän der ungarischen „Goldenen Elf“. Am legendären 6:3 gegen England 1953 im Wembley-Stadion war er maßgeblich beteiligt. 1954 war er drauf und dran Weltmeister zu werden, wäre da nicht das „Wunder von Bern“ dazwischengekommen, als die deutsche Elf die Ungarn überraschend mit 3:2 besiegten. Puskás ruht in der Szent István-Basilika neben Heiligen und Königen und wird in Ungarn als Nationalheld verehrt. Als wäre das nicht Huldigung genug, ist auch das Budapester Fußballstadion nach ihm benannt. Im jüdischen Viertel von Pest entdecke ich zudem eine riesige Hauswand, auf der die Geschichte vom 6:3 verewigt ist.

Auf einer Hauswand verewigt: Ungarns legendäres 6:3 gegen England 1953 im Wembley Stadium
 

Kamermayers Vermächtnis
Von der St. Stephans Basilika laufe ich jetzt durch enge Gassen nach Osten und komme zu zwei bedeutenden Bauwerken, die die Handschrift von Bürgermeister Karoly Kamermayer tragen. Die ungarische Staatsoper ist ein so prächtiger Neo-Renaissancebau, dass der österreichische Kaiser Franz Joseph I. bei ihrer Einweihung sauer war, weil sie ihm noch prunkvoller als das Wiener Opernhaus erschien. Zur Oper gelangt man übrigens, der Weitsicht Kamermayers sei es gedankt, mit der historischen U-Bahnlinie M1.  Auch als Jogger lohnt sich ein Abstecher in die nur weniger Meter unter der Straße liegende Station „Opera“.

Station „Opera“ der ersten U-Bahn auf dem europäischen Festland

Die Station ist blitzsauber. Die Wände sind geschmackvoll in weiß-schwarzem Muster gekachelt, die Ein- und Ausgangstüren aus schönem Holz geschnitzt, die Stahlträger kunstvoll ausgestattet.  

Durch das jüdische Viertel
Das jüdische Viertel liegt südlich der Staatsoper. Die Hauptstädter nennen es auch gerne das Elisabeth-Quartier. Denn der schönen Sissi, der Gemahlin von Franz Josef I. und ab 1867 auch gekrönte Königin von Ungarn, wird eine große Liebe zu den Magyaren nachgesagt. Ihre jüngste Tochter kam in Buda zur Welt. Kein Touristenführer versäumt es zu erwähnen, dass sich die Wittelsbacherin mit Erfolg bemühte, ungarisch zu lernen. 

 Sozialwohnung im Jüdischen Viertel

Unter der Nazibesatzung unter der Führung von Adolf Eichmann wurde das Viertel zum Ghetto, mit dem Ziel, die jüdischen Anwohner in Vernichtungslager zu deportieren.  Kurz vor Kriegsende sah sich das Horthy Regime jedoch durch den wachsenden internationalen Druck und das aktive Engagement neutraler Staaten veranlasst, Deportationen aus dem Viertel zu stoppen.  Örtliche Diplomaten, wie der Schwede Raoul Wallenberg, gewährten vielen weiteren Personen Schutz. Heute bietet das Quartier ein gemischtes Bild. Die jüdische Gemeinde hat sich in drei verschiedene Glaubensrichtungen auseinanderentwickelt. Rund 60.000 bis 70.000 Juden leben in Budapest. Die Zahl der aktiv praktizierenden Juden ist deutlich kleiner. Es ist ein Trend zu beobachten, den man z.B. auch in Kazimierz, dem jüdischen Viertel von Krakau, beobachten kann. Das Elisabeth-Viertel wird zunehmend zum hippen Ausgehquartier, in die Abbruchhäuser nisten sich Kneipen ein, abends herrscht hier ein munteres Treiben. Doch etliche Einwohner wohnen in erbärmlichen Verhältnissen. Die Sozialwohnungen verfallen oder werden privaten Investoren überlassen. Die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf.

Die große Synagoge

Fast schon am Ende meines Rundlaufs stehe ich vor der Großen Synagoge in der Dohány Straße. Mir gefällt, wie die filigrane Ornamentik dem Backsteinbau eine besondere Würde verleiht.  Gleich neben der Synagoge steht das Geburtshaus von Theodor Herzl, dem großen Zionisten und Wegbereiter eines eigenständigen jüdischen Staats. Ich laufe weiter, überquere den belebten Astoria Platz und biege in die Semmelweis-Straße ein. Der Name würdigt den ungarischen Gynäkologen, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ursachen des Kindbettfiebers entdeckte und vielen Müttern fortan das Leben rettete. Ignaz Semmelweis war nur ein paar Jahre älter als Karoly Kamermayer. Beide gehörten einer Generation an, die ihrem Land und ihrer Stadt durch ihr visionäres Schaffen besonderen Glanz verliehen. Budapest zehrt noch heute davon.

„No matter what“: Das Matterhorn  

Der schönste Berg der Welt?

Es gibt nur wenige Berge auf der Welt, die so intensive Träume auslösen wie das Matterhorn. Und zu viele davon enden mit dem Tod. Das galt schon für den Briten Edward Whimper und seine eilig zusammengewürfelte Truppe, die am 14. Juli 1875 erstmals den Gipfel erreichten. Whimper war im Wettbewerb mit einer italienischen Seilschaft nur etwas schneller. Doch die Freude währte kurz, denn beim Abstieg stürzten vier seiner Kollegen tödlich ab. Die Diskussion um das gerissene Sicherungsseil befeuert den Mythos Matterhorn bis heute. Das einst bettelarme Dorf Zermatt am Fuße des Berges wurde weltberühmt und erlebte den größten Alpentourismusboom aller Zeiten. Das mehrdeutige Motto der Macher von heute lautet: „Zermatt. No matter what“.

Unzählige Alpinisten haben sich inzwischen in das Gipfelbuch eingetragen. Auch Theodore Roosevelt und Winston Churchill haben es  in ihren jungen Jahren bis nach ganz oben geschafft. So wird es im Zermatlantis, dem Matterhorn Museum in Zermatt, erzählt. Und Luis Trenker, der Held des Filmklassikers „Der Berg ruft“, war natürlich auch schon oben. Heikel ist indes der Abstieg. Acht bis zehn Tote pro Jahr gehen auf das Konto des „Toblerone-Berges“. Das Matterhorn gehört zu den tödlichsten Bergen der Welt. Die Rettungsteams von Air Zermatt sind rund um die Uhr beschäftigt.[1] 

Der lange Weg zum Paradies
Auch wir haben uns einen Traum erfüllt, allerdings bequemer und mit respektvollem Abstand. Vom hübschen Ortsteil Winkelmatten mit seinen alten Heuschobern ist es nur ein kurzer Fußmarsch zur Talstation des Matterhorn Glacier Paradise Express. Der viel versprechende Name verfehlt seine Wirkung nicht. Mit deutlich erhöhtem Adrenalinspiegel steigen wir ein – und bei der Station Furi viel zu früh wieder aus. Erst allmählich dämmert uns Greenhorns, dass der Weg ins Paradies über zahlreiche Zwischenstationen verläuft. Dass wir zum Schutz vor Corona im Lift auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch aufgefordert werden, die mascherina, also den Mund-Nasenschutz, zu tragen, bereichert unseren Wortschatz, denn Corona wird uns weiter begleiten. Mit einer ultramodernen Glasgondel in der Größe eines Lieferwagens schweben wir schließlich hinauf auf das 3883 Meter hohe Kleine Matterhorn. Wir schauen hinüber nach Italien in ein fantastisches Bergpanorama. Das Große Matterhorn uns gegenüber sehen wir nun von hinten – in der italienischen Version als Monte Cervino.

Schutz vor Ratten: Steinplatten unter Heuschobern in Winkelmatten

Wir sind in dieser Vorweihnachtszeit nicht ganz allein mit unserem Traum. Ein nettes Paar aus Zürich sitzt mit uns in der Gondel zum Paradies. Auch für sie ist es erstmals zum Greifen nah.  Und sicher auch für die peruanische Familie, die die 360 Grad Aussicht vom Gornergrat auf die umliegenden Viertausender genießt.

Qualität hat ihren Preis
Ahat ist dagegen schon ein alter Hase. Ihn treffen wir im Sessellift auf dem Weg zum Rothorn, ein weiteres Skigebiet mit Traumblick auf das Matterhorn.  Ahat ist schon zum dritten Mal in Zermatt, zieht es kennerhaft dem französischen Topgebiet Courchevell vor und residiert mit seiner Familie im besten Hotel am Platze. Ahat ist zehn Jahre alt und kommt aus Dubai.

Auch die sehr blonde Dame mit der goldenen Daunenjacke und der Elton-John-Sonnenbrille scheint sich hier am rechten Platz zu fühlen. Sie sitzt im Café des Fünf-Sterne-Riffelalp-Resort-2222-Meter  und bearbeitet ihr Smartphone. Der Russe am Nebentisch hält sein Gesicht in die Sonne und sagt dabei „da, da, da“ zu seinem смартфон. Ohne Smartphone geht es tatsächlich nicht, sonst wüsste die Welt nicht wo frau/man gerade ist. Vor lauter Glotzen wird unser Kaffee allmählich kalt. Russen besuchen Zermatt übrigens vor allem im Winter, Asiaten dagegen lieber im Sommer. Briten und Deutsche sind immer da. Das hat der umtriebige „Verein Zermatt Tourismus“ herausgefunden und richtet sein Marketing entsprechend aus. Die mehrsprachige Matterhorn App ist so programmiert, dass man fortlaufend Superangebote erhält und blitzschnell buchen kann (und soll).

Für jeden Geschmack ist etwas dabei

Wie sieht die Zukunft aus?
Das Skigebiet Zermatt lockt mit 52 Liften, 358 km Pistenlänge und Sommerski auf dem Gletscher des Klein Matterhorns. Das ist faszinierend, und macht doch nachdenklich. Laufend werden neue Seilbahnen gebaut und Pisten erschlossen. Zu klein gewordene Gondeln bleiben wie Flaschenstöpsel in den alten Seilbahnstationen stecken. Die modernen Aufstiegshilfen ins Hochgebirge ermöglichen einem breiten Publikum den Zugang in alpines Gelände. Wir haben etliche ausprobiert: große und kleine Gondelbahnen, Sessellifte, ober- und unterirdische Zahnradbahnen. Über die zahlreichen Querverbindungen vom Glacier Paradise über den Gornergrat bis hin zum Rothorngebiet gelangen wir fast mühelos von einer Bergregion zur nächsten – und wieder zurück. Bei Traumwetter ist das ganz fraglos ein großartiges Naturerlebnis.

Doch wo geht diese Entwicklung hin? Wie sehen Zermatt und seine Bergwelt in 5 oder 10 Jahren  aus? Gibt es ein Stoppschild für die Eroberung der Natur? Zweifellos werden die Umweltauflagen strenger, doch die Eingriffe des Menschen sind nicht mehr rückgängig zu machen.

Mit der Gornergratbahn zur 360-Grad-Aussicht

Von der gemütlichen Berghütte auf dem Gipfel des Rothorns schauen wir hinüber auf den Findelgletscher. Ein Blick wie aus dem Bilderbuch, der umgehend mit dem Smartphone festgehalten wird. Auf den zweiten Blick sieht man die haushohen Moränen an seinen Rändern. Sie deuten an, wie weit der Gletscher schon abgeschmolzen ist. Wissenschaftler sagen, dass er seit Beginn der Messungen Mitte des 19. Jahrhunderts um über 2,5 km zurückgegangen ist. [2]

Abschmelzender Findelgletscher unterhalb des Monte Rosa Massivs

Im Ort Zermatt gibt man sich umweltbewusst und schwört auf eine nachhaltige Entwicklung. Mit widerstreitenden Interessen hat man offenkundig gelernt zu leben. Auf der Habenseite steht, dass der Ort Zermatt schon immer autofrei war. Bis ans Ende des schmalen Hochtals kommt man nur auf der Schiene mit der Matterhorn – Gotthard – Bahn. Private PKWs müssen im 5 km vorgelagerten Täsch abgestellt werden. Im Ort geht es zu Fuß, mit der Kutsche, dem E-Bus oder E-Taxi weiter. 70% des Strombedarfs werden mit Wasserkraft gedeckt. Auf der anderen Seite weist die Zermatt Touristik für das Jahr 2020/21 1,7 Millionen Logiernächte aus. In Vor-Corona-Zeiten waren es sogar bis zu 2,3 Millionen.[3] Und das in einem kleinen Bergdorf mit nur 5500 ständigen Einwohnern. Die Abwägung zwischen Erleben und Erhalten bleibt da schwierig.  

Der Alpinist Reinhold Messner, bekannt dafür, dass er Klartext redet, hat sein Urteil längst gefällt. Mit dem Run auf das Matterhorn, so sagt er, begann das Ende der alpinen Unschuld. Er mag die so wunderschön geschwungene Pyramide am liebsten aus der Ferne. „Je näher man diesem Berg kommt, umso unattraktiver wird er. Das Matterhorn ist ein stinkender Schutthaufen. Es stinkt tatsächlich nach Urin.“[4] Das wird sich so schnell nicht ändern. Der Mythos Matterhorn bleibt bestehen, no matter what.


[1 ]Die Bergretter in Zermatt – Leben retten in den Alpen | Doku | SRF Dok – YouTube

[2] Findelgletscher – Wikipedia

[3] ZT_Jahresbericht-2020+Version+20.01.21_Web_kl.pdf

[4] Reinhold Messner über die Faszination des Matterhorns (tz.de)



Vom Glücksgefühl auf Radlerbrücken: Kopenhagen

Cirkelbroen und „Schwarzer Diamant“

Laufroute: Mit dem Rad aus dem Stadtteil Nørrebro bis zum Café la Pausa am nordöstlichen Ufer des Peblinge Sees, dann Laufstrecke am Seeufer, über Brücke Dronning Louises, Gothersgade, Kings Garden mit Schloss Rosenborg, Nyhavn, über die Brücke nach Christianshavn, Circle Bridge, Lille Langbro Brücke, DAC, Frederiksholm Kanal, Königspalast, Margstraede, Strøget, Købmagergade, Kultorvet, Nørreport, Orstedsparken, Seepavillon; 8,3 km.

8 km Rundlauf im Uhrzeigersinn

Als Brasilia 1960 zur neuen Hauptstadt des größten Landes Südamerikas gekürt wurde, war Jan Gehl begeistert von Oscar Niemeyers monumentaler Meisterleistung. Niemeyer und seine Mitstreiter hatten mitten im Urwald eine Stadt aus dem Boden gestampft, die den Menschen Wohlstand, Demokratie und Freiheit versprach – und ein eigenes Auto. Denn Fußwege und Bürgersteige sind in Brasilia bis heute Mangelware.[1]  Doch dann stellten sich der junge dänische Stadtplaner und seine Frau die Frage, was Architektur eigentlich mit den Menschen macht, die in ihr und um sie herum leben müssen. Sie gingen auf die Straßen und Plätze Kopenhagens und fragten bei den Einwohnern nach. So erzählt es jedenfalls Jan Gehl 2014 in einem Interview mit brandeins online.

Menschenfreundliche Stadtplanung
Kopenhagens Stadtverwaltung hatte mit dem sog. Fingerplan schon früh auf die Vernetzung von Stadtentwicklung mit Naherholungsgebieten gesetzt. Nun begleitete die Stadt die Forschungsarbeiten von Gehl und seiner Frau und setzte ihre Empfehlungen behutsam um. Der Erfolg ist offensichtlich: 1960 verpesteten Autoschlangen die Innenstadt Kopenhagens. Heute sind im Zentrum sämtliche Plätze autofrei. Parkplätze werden Zug um Zug reduziert, Radwege weiter ausgebaut. Mehr als ein Viertel aller Kopenhagener ist inzwischen mit dem Fahrrad unterwegs. Für viele Menschen ist das schlicht die schnellste und sicherste Form der Fortbewegung – und für die Stadtplaner ein wichtiger Schritt in Richtung Klimaneutralität. Doch die Entwicklung wirft auch Schatten, denn die Mietpreise sind hoch und ältere Menschen ziehen sich aufs Land zurück.

Wie fühlt sich das an, in einer den Menschen so zugewandten und lebensbejahenden Stadt unterwegs zu sein? Ich mache einen Selbstversuch, miete mir ein Fahrrad und radle und jogge im Juli 2021 kreuz und quer durch die Stadt.

An einem schönen Sommermorgen fahre ich vom kulturell sehr abwechslungsreichen Stadtteil Nørrebro mit Harry, meinem Mietfahrrad, bis zum Café la Pausa, ein wunderbar gelegener Ort am Rande eines Seengürtels, der mitten durch die Stadt verläuft.  Schon das Morgenlicht über dem See wirkt euphorisierend. Und das ist gut so, denn meine nun beginnende acht Kilometer lange Laufrunde durch die Stadt erfordert Durchhaltevermögen.

Morgenstimmung am Peblinge

An der Dronning Louises Brücke biege ich rechts ab in Richtung Innenstadt und laufe dann die Gothersgade knapp zwei Kilometer zum Nyhavn (Neuer Hafen) hinunter, mitten hinein in Kopenhagens touristische Puppenstube. Gothersgade bedeutet so viel wie „Straße der gotischen und wendischen Könige“, ein Titel, den das dänische Königshaus lange für sich beanspruchte. Königlich ist an der vielbefahrenen Straße mit etlichen Kneipen aber nur Schloss Rosenborg, das inmitten der Königlichen Gärten liegt. Ein Striplokal gegenüber wirbt damit, ausschließlich dänische Damen zu beschäftigen. Ist das womöglich eine Folge der restriktiven Einwanderungspolitik?

Nyhavn ist ein im 17. Jahrhundert angelegter Kanal, der Kopenhagens Hafen mit dem Neuen Königsmarkt, ein zentraler Platz in der Altstadt, verbindet. Der Kanal mit seinen pittoresken Häusern aus dem 18. und 19.Jahrhundert entfaltet vor allem am frühen Morgen seinen besonderen Charme.  Tagsüber und abends jedoch, wenn die Menschen um die zahllosen Kneipen und Souvenirläden flanieren, gibt es kaum ein Durchkommen.

Nyhavns Charme am Morgen

Wenn Wasser zum Spielplatz wird
Ich nähere mich jetzt der breiten Wasserstraße, die Kopenhagen mit der Ostsee verbindet. Die Einheimischen haben das blitzsaubere Wasser im Hafen längst als Schwimmbad und Vergnügungspark in ihren Alltag integriert. Die besucherfreundlichen Uferanlagen sind zugleich Strandbad, Treffpunkt, Liegewiese oder Partyfläche.

Gleich hinter dem Nyhavn trabe ich über die Inderhavnsbroen, eine überaus elegant geschnittene Fußgänger- und Radfahrerbrücke, hinüber nach Christianshavn. Jenseits der Brücke liegt eine beliebtes Street Food Areal.  Das alternative Nachbarviertel – die in den 1970er Jahren gegründete Freistadt Christiania – lasse ich allerdings links liegen, denn wer sich dort auf der Pusher Street mit Rauschmitteln benebeln will, macht das lieber später am Tag.

Ich hab’s mehr mit dänischer Architektur und blicke von der Inderhavens-Brücke auf das weit über das Wasser gebaute Schauspielhaus. Schräg gegenüber die Silhouette des Opernhauses  – zwei Stilikonen des modernen Kopenhagens.

Theater über Wasser

Der Ortsteil Christianshavn ist ebenfalls weitgehend Neubaugebiet. Von seiner Wasserfront hat man den besten Blick auf Kopenhagens Altstadt. Mein Favorit ist die Circle Bridge, eine Brückenkonstruktion für Fußgänger und Radler aus mehreren kreisrunden Plattformen. Sie liegt exakt gegenüber dem „Schwarzen Diamanten“, also der Dänischen Königlichen Bibliothek, eine überaus gelungene architektonische Symbiose von Alt und Neu. Die Lesesäle strahlen ein so einzigartiges Ambiente aus, dass bei den hier Studierenden – das ist empirisch belegt – unwillkürlich Glücksgefühle aufkommen.  

Design kann glücklich machen
Über die Lille Langebro, eine weitere elegant geschwungene Radbrücke über den Hafen, geht es wieder zurück in die Altstadt. Doch jenseits der Brücke laufe ich zunächst auf riesige, kreuz und quer aufeinander gestapelte anthrazitfarbene Legosteine zu – eine Verbeugung vor einem der weltgrößten Spielzeughersteller aus dem dänischen Billund. Im Innern des Gebäudes ist das Danish Architecture Center (DAC) untergebracht, in dem mit einer kleinen Prise Selbstbewusstsein die unbestreitbaren Errungenschaften dänischer Stadtplanung und Architektur gewürdigt werden. 

Das DAC werde ich später besuchen. Deshalb laufe ich weiter und nähere mich entlang des Frederiksholm Kanals erneut königlichen Gefilden. Vor dem monumentalen Schloss Christiansborg thront Christian IX. auf hohem Ross, König von Dänemark von 1863 bis 1906. Er heiratete übrigens seine deutsche Cousine, eine Prinzessin von Hessen, was allerdings nicht den deutsch-dänischen Krieg von 1864 um die Herzogtümer von Schleswig und Holstein verhindern konnte. Immerhin gelang es dem Paar, ihre sechs Kinder allesamt in diversen Königshäusern unterzubringen. Das brachte Friedrich IX. den Ehrentitel „Schwiegervater Europas“ ein. Aus Schloss Christiansborg selbst ist die Königsfamilie inzwischen in das nahegelegene Schloss Amalienborg umgezogen. Das hat besonders viele Schornsteine, weil die amtierende Königin Margrethe II., so wird gewitzelt, Kettenraucherin ist. In Christiansborg sind unterdessen die heutigen drei Gewalten der dänischen Demokratie eingezogen: Exekutive, Legislative und Judikative walten allesamt unter einem, wenn auch sehr großen Dach.    

Mein weiterer Laufweg führt mich durch die Margstraede, angeblich die älteste Straße der Stadt. Durch das Altstadtlabyrinth lande ich schließlich dort, wo die große Fußgängerstraße Strøget auf den Storchenbrunnen trifft. Hier könnte man sich wohlfühlen, wenn man nicht wüsste, dass die dänische Kriminalautorin Katrine Engberg in ihrem Thriller „Glasflügel“ ausgerechnet in diesem Brunnen eine Frauenleiche versenkt hat.

Entlang der menschenleeren, tagsüber aber sehr belebten Købmagergade mit ihrem weißgrau-melierten Fußbodenbelag und der gelben Schlangenlinie in der Mitte passiere ich den berühmten Runden Turm von Kopenhagen. Im 17. Jhd. wurde er als Sternwarte erbaut und mit einem Wendelaufgang versehen, der auch zu Pferde bestiegen werden kann.

Am Kultorvet-Platz plätschern am Morgen schon die Wasserspiele. Die Straßencafés haben geöffnet und drinnen schnaufen die Siebträgermaschinen. 

Wasserspiele am Kultorvet Platz

Nun ist es nicht mehr weit zu meinem Ausgangspunkt. Ich gönne mir noch einen Besuch auf dem Blumenmarkt am Bahnhof Nørreport sowie einen Abstecher in den idyllischen Orstedsparken, ein kleiner Stadtpark mit See, der am Morgen vor allem von älteren Hundeliebhabern frequentiert wird. Zurück amPeblinge Sø, hat sich schon eine Gruppe Jogger zu Dehnübungen am Seepavillon versammelt. Die Männer mit Tattoo machen es mit nacktem Oberkörper. Ein Bagger reinigt bedächtig den Seeboden. Auch für die Enten und Schwäne soll alles schön hyggelig sein.


[1] Vgl. in dieser Serie: Laufspass auf der Stadtautobahn: Brasilia trotzt der Krise, November 2016 (laufspass auf der Stadtautobahn | Suchergebnisse | viertelvorsieben

Abschied von gestern – ein Rundlauf am Rhein

Alles, was keiner mehr will, kommt weg.

Unterm Sitzpolster des Esszimmerstuhls hängen die Drahtfedern heraus.  Der Bezug ist abgewetzt und fleckig, die Ecken sind aufgeplatzt. Mit anderem Gerümpel steht er wie bestellt und nicht abgeholt im Wohnzimmer herum. 

Vorsichtig nehme ich Platz, schnüre mir die Laufschuhe und verlasse das fast leere Haus. Der Schlüssel kommt unter die Mülltonne. Es ist meine Abschiedsrunde durch den Rheinauenpark. 

Das Wetter ist an diesem frühen Samstagmorgen prächtig. Ich höre die Vögel richtig laut zwitschern und treffe auf der Straße ältere Menschen, die ihre gleichaltrigen Hunde ausführen. 

Rundlauf durch den Bonner Rheinauenpark: Donatusstraße, Kennedyallee, Kolumbusring, Europastraße, Martin-Luther-King-Straße, Auensee, von-Sandt-Ufer (Rheinuferweg), St. Evergislus Friedhof, Auerhofstraße, Leonardusstraße, Donatusstraße; 5,9 km

Der Parkplatz vor dem ALDI Supermarkt an der Kennedyallee ist praktisch leer. Auch der Behindertenparkplatz direkt vor dem Eingang sowie der Platz gegenüber sind frei. Der Pfahl mit dem Behindertenschild steht wieder aufrecht. Im Blumenbeet vor der Parkbucht sind keine Reifenspuren mehr erkennbar. Alles wirkt friedlich an diesem Morgen.

Nilgänse, Baseball und Solarenergie
 Im Wohnpark jenseits der Kennedyallee hoppeln die Karnickel auf den feuchten Rasenflächen herum. Sie scheinen hier Hausrecht zu haben und lassen sich von mir nicht aus der Ruhe bringen. Die schmucken, aber bescheidenen Häuserzeilen aus den 50er und 60er Jahren gehören zur amerikanischen Siedlung in Plittersdorf.  Davon zeugen auch die Straßennamen: Kennedyallee, Kolumbusring, Martin-Luther-King-Straße. Ich weiß nicht, wie viele Amerikaner hier heute noch leben. Das Gebäude des amerikanischen Clubs, wo sich die Familien sonntags zum Brunch trafen, ist schon seit langem geschlossen und wegen Einsturzgefahr abgeriegelt. Die Wände sind mit Graffitis besprüht.

Ein paar Erinnerungen an amerikanische Zeiten gibt es noch. Auf dem Platz, den jetzt eine wachsende Schar von Nilgänsen okkupiert, trainiert das Baseballteam der Bonn Capitals. Das Team entstand um die Wendezeit, gegründet von Freunden Amerikas. Inzwischen spielt es immerhin in der Champions League. Auf der Martin-Luther-King-Straße stoße ich auf einen bekannten Firmennamen, der nun auch schon Geschichte ist: Hinter hochgewachsenen Büschen liegt das ehemalige Hauptquartier der Solarworld AG. 2017 musste das einstige Bonner Vorzeigeunternehmen Insolvenz anmelden. Üppige Subventionen aus dem Energieeinspeisegesetz (EEG) hatten Solarworld einen privilegierten Platz an der Sonne verschafft. Dann aber holte die Konkurrenz aus China auf. 

Die Nilgänse im Rheinauenpark vermehren sich schneller als die Karnickel.

Inzwischen bin ich im Rheinauenpark angekommen. Auf dem Auensee breiten sich Seerosenblätter aus. 1979 wurde der Park für die Bundesgartenschau angelegt. Es wurden eigens Hügel aufgeschüttet, die die Silhouette des Siebengebirges auf der anderen Rheinseite widerspiegeln sollten. Damals sah das alles ziemlich künstlich und kahl aus. Gute vierzig Jahre später ist der Park wunderbar eingewachsen. Die großen Bäume verstecken auch eine mittendrin gelegene Kläranlage.

Schwäne und Raver
Nahe am Seeufer verläuft ein schöner Naturpfad, ideal zum Joggen. Es scheint so, als hätten sich heute Morgen die wenigen Parkbesucher die Flächen untereinander aufgeteilt. Hier die Nilgänse mit zahlreichem Nachwuchs. Dort die Schwanenkolonie. Die großen weißen Vögel demonstrieren Selbstbewusstsein. Jogger sollten besser Abstand halten.  

Und dann sind da noch jene Gäste, deren wummernde Geräusche ich schon lange höre, bevor ich die jugendlichen Raver am Seeufer campieren sehe. Zum Cool-Sein gehört der Geräuschpegel einfach dazu. Und auch Hochprozentiges. Am Grillplatz stehen ziemlich viele leere Flaschen herum.

Schwanengesang oder Morgengymnastik?

Oben auf einem der Hügel liegt das Parkrestaurant Rheinaue. Wie häufig dort die Eltern über die Jahre mit Kindern, Enkeln, Urenkeln, Pflegerinnen und Pflegern zu Gast waren, hat keiner mitgezählt. Als der Vater, weit in den Neunzigern, nicht mehr konnte, zückte die Mutter ihre Scheckkarte, raunte dem Sohn für alle hörbar die Geheimnummer zu und ließ die Rechnung von ihm begleichen. Der Mann zahlt. Für sie gehörte sich das so.

Hinter der Südbrücke ragt das alte Abgeordnetenhochhaus heraus. Es stammt aus der Zeit, als Deutschland noch aus Bonn regiert wurde. Inzwischen ist dort das UN-Klimasekretariat eingezogen. Bonn hat trotz des Umzugs der Hauptstadt dank des Bonn-Berlin-Gesetzes  einen beachtlichen Boom erlebt.  

Rheinwasser an Friedhofsmauern
Unterhalb der Südbrücke trabe ich zum Rhein hinunter und nehme den Uferweg nach Süden. Ein Kilometerstein für die Schifffahrt zeigt an, dass der Rhein hier schon 651 km lang ist. Ich laufe ein paar Kilometer stromaufwärts. Mit den langsameren Kähnen kann ich sogar Schritt halten. Das Wasser schwappt an die Böschung. Nach den vielen Regenfällen des Sommers führt der Fluss reichlich Wasser. Vor ein paar Jahren wuchsen auf dem austrocknenden Flussboden noch Tomatenpflanzen.  

„Der Rhein hat wenig Wasser!“ pflegte die Mutter zu sagen. Was zunächst noch Small talk war, erstarrte später zur wiederkehrenden Floskel, ganz unabhängig vom Wasserstand. Als der Sohn den Vater vor ein paar Jahren am Rhein spazieren fuhr, reichte das Wasser noch bis knapp an die Friedhofsmauern der St. Evergislus Kirche. Der Rollstuhl drohte im Morast stecken zu bleiben.  

Friedhofsmauern von St. Evergislus

„St. Evergislus hat den einzigen Friedhof in Bonn mit Unterbodenreinigung“ scherzte später der Gemeindepfarrer über das wiederkehrende Hochwasser am Rhein. Er war zur letzten Ölung des Vaters herbei geeilt. Ich erkundigte mich, ob auf dem Friedhof noch Platz wäre. Denn die Friedhofsverwaltung hatte dem Vater früher einmal geraten, doch bitte „ein halbes Jahr vorher“ nochmal nachzufragen. Das „halbe Jahr“ war jetzt plötzlich vorbei. 

Prunk am Abgrund
Nach dem Unfalltod der Mutter auf dem ALDI Parkplatz waltete ein neuer Gemeindepfarrer seines Amtes. Und fristgerecht gab es auch noch ein Sechswochenamt in der Bonner St. Remigius Kirche. Der Zufall wollte es, dass an diesem Gedenksonntag auch ein Kölner Weihbischof zur Visitation in Bonn weilte. Und so geriet die Familie unfreiwillig mitten hinein in das Kölner Bistumsdebakel.

Dem Bischof zu Ehren wurde in der Messe der ganze Prunk katholischer Hochämter aufgefahren. Selbst im Schlaf könnte ich die typischen Gerüche und Geräusche wieder erkennen: Weihrauch wird in alle Himmelsrichtungen geschwenkt, Räuchergefäß und Kette machen dabei dieses typisch scheppernde Geräusch. Von der Empore erschallen Orgel- und Trompetenklänge. Die zahlreichen Messdiener im rotweißen Gewande schreiten beim Einzug in die Kirche in Reih und Glied vor Pfarrer und Bischof einher. Ansonsten sieht man sie mal stehend, mal kniend neben dem Altar. Einer von ihnen aber muss höllisch aufpassen und an der richtigen Stelle klingeln, wenn in der Wandlung der Leib Christi präsentiert wird. Danach gilt es, die Klingel möglichst geräuschlos wieder abzustellen. Die ganze Gemeinde passt auf, dass das auch klappt. Eine Ordensschwester – tatsächlich tritt an dieser Stelle der Messe eine Frau auf – trägt in der Lesung einen Brief von Paulus an die Korinther (1 Kor 7, 32-35) vor. Paulus schreibt über das Verhältnis von Männern und Frauen und wie sie Gott, dem Herrn in rechter Weise dienen können. Der kurze Text geht – in Auszügen – so:

Brüder! (…) Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Das sage ich zu eurem Nutzen: nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr in rechter Weise und ungestört immer dem Herrn dienen könnt.

Der Weihbischoff predigt dazu mit ruhiger Bassstimme. Alles geschieht in Liebe und Dienerschaft zu Gott. Das überrascht aus seinem Munde nicht, aber hat er in Sachen Sexualität nicht ein zentrales Thema unerwähnt gelassen? Wenige Wochen später lässt der Bischoff sich im Zuge der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum Köln und dem darin gemachten Vorwurf des pflichtwidrigen Umgangs mit sexualisierter Gewalt von seinen Aufgaben freistellen. Was er sich vorzuwerfen hat, wird – weiß Gott! – wohl sein Geheimnis bleiben.

Auf dem Weg vom Rheinufer zum Elternhaus mache ich einen Umweg über den St. Evergislus Friedhof. Vor dem Grab der Eltern zu stehen, ist kein einfacher Moment.  Ich streiche den feinen Rindenmulch glatt, zupfe ein paar verwelkte Blüten aus dem Blumenschmuck. Zur Ablenkung denke ich an das nächste Rheinhochwasser. Es kommt so sicher wie das Amen in der Kirche und mit ihm dann auch die versprochene Unterbodenreinigung.

Ein Cappuccino hilft immer weiter
Das Haus ist angenehm kühl und still. An der großen Wohnzimmerwand hängt noch ein kleines Aquarell, das keiner mehr wollte. Alles, was keiner mehr wollte, hängt, steht oder liegt noch herum. Die Aufteilung der anderen Dinge folgte einer Dramaturgie, die nicht unbedingt weiter zu empfehlen ist. Ich hatte gedacht, Hinterbliebene wären gut beraten, zusammenzurücken. Tatsächlich scheinen die Fliehkräfte stärker zu sein.    

Die Frühstückcroissants aus dem ALDI und der Cappuccino to go aus dem Café nebenan sind richtig lecker. Das Auto habe ich beim Einkauf etwas abseits geparkt.

Mit Opa durch Hilversum

(Aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Rosenmarkt Hilversum

Rosen und Gemüse
Marieke liebt nicht nur Rosen, sondern ist auch eine begeisterte Gemüsepflanze. Fröhlich stopft sie blanchierten Broccoli und Blumenkohl, Möhrchen, Süßkartoffelchips oder Gurkenstückchen in ihr kleines Mäulchen. Kaum sichtbar blitzen die ersten Zähnchen aus dem Unterkiefer.  Also muss Marieke das ganze Gemüse zwischen ihren zahnlosen Kiefern zermalmen. Das ist mit ihren neun Monaten eine gehörige Anstrengung. Wenn ich jetzt schon mein drittes Gebiss hätte, könnte ich es herausnehmen und mit ihr um die Wette malmen. Aber Marieke geht es gar nicht um Geschwindigkeit, sondern um Genuss. Also bitte nicht ungeduldig werden, Opa!

Meine Enkelin hat in Wirklichkeit einen anderen wunderschönen Namen. Aber „Marieke“ gefällt mir als Pseudonym für eine echte halbe Niederländerin besonders gut.

Radio Hilversum
Bis also alles aufgegessen oder auf dem Boden verteilt ist und wir zum Spaziergang durch Hilversum aufbrechen, dauert es noch eine kleine Weile. Da kann ich noch schnell erzählen, was es mit Hilversum eigentlich auf sich hat. Dafür müssen wir uns für einen Moment in die 1960er und 1970er Jahre, also in die gute alte Zeit der Mittelwellensender, zurück versetzen. Die heißesten Songs der Beatles und Rolling Stones, die Rock n‘ Roll Nummern von Little Richard oder Chuck Berry hörten wir damals auf MW-Piratensendern. Radio Nordsee International, Radio Veronica oder Radio Caroline hießen die Sender, die auf kleinen Booten in internationalen Gewässern vor der Küste Hollands kreuzten.  Dabei rauschte und knisterte es immer ganz fürchterlich, aber das lag wohl am Wellengang und vermittelte das Gefühl von verbotenem Abenteuer.

Radio Hilversum war damals auch so ein europaweit bekannter Mittelsender, aber einen Tick bürgerlicher, denn Hilversum hatte einen festen Platz auf der Senderskala der großen alten Rundfunkgeräte. Hilversum klang für mich immer so ein bisschen wie Universum. Das lag überall und nirgendwo.  Deshalb habe ich lange nicht geahnt, dass Hilversum tatsächlich eine ganz reale Stadt mit heute 90.000 Einwohnern in der niederländischen Provinz Noord-Holland ist. 1985 wurden die Mittelwellensender europaweit abgeschaltet. Hilversum aber ist bis heute die Medien-Stadt der Niederlande und Sitz zahlreicher Fernseh- und Radiosender.

Hundeparadies im Gooiland

Die Entdeckung von Hilversum habe ich Marieke zu verdanken. Oder eigentlich ihren Eltern, die früh erkannt haben, dass Hilversum ein Ort mit hoher Lebensqualität ist, bequem zwischen den Arbeitsplätzen in Utrecht und Amsterdam liegt und noch dazu eine direkte Zugverbindung nach Berlin hat. Im Land mit der größten Bevölkerungsdichte Europas liegt Hilversum verblüffenderweise inmitten von weiten Heidelandschaften, dichten Wäldern, bunten Wiesen und blauen Seen.

Alles Käse
Jetzt sind wir endlich startklar für unseren Spaziergang durch die adrette Innenstadt von Hilversum. Wegen Corona wird auf den rotgepflasterten Wegen immer wieder an die Abstandsregeln erinnert: „Welkom, houdt 1,5 meter afstand“. Das verstehen selbst wir. Die Niederlande gelten derzeit als sog. Hochinzidenzgebiet. Und doch herrscht auf dem Samstagsmarkt so munteres Treiben, dass wir uns schnell von der entspannten Stimmung anstecken lassen. Manche Einheimische tragen zwar Alltags- oder gar OP-Masken. Doch mit unseren FFP 2-Masken fallen wir genauso aus dem Rahmen, wie wenn wir mit Fahrradhelm durch Holland radeln würden.

Holland Kaascentrum

Unseren ersten Halt machen wir beim Käse. Man braucht eigentlich nur in die Nähe der großen gelben Räder zu kommen, und schon setzt der Kaufrausch ein. Der Händler gibt uns die freundliche Empfehlung, dass nicht nur der holländische Käse Spitzenklasse, sondern auch der französische (!) Morbier hervorragend zum Raclette-Essen geeignet sei. 

Als nächstes besuchen wir den Tulpenstand. Meine blumenvernarrte Gattin kauft mit Wonne jene hochgezüchteten Gewächse, deren Blütenblätter so ausgefranst sind, als hätte sie jemand mit einer Nagelschere traktiert. Marieke ficht das alles nicht an. Halb schlafend, halb dämmernd hat sie ihre blaue Mütze tief über die Augen gezogen und nuckelt an ihrer blauen Wassertasse. Im ebenso blauen Wolloverall liegt sie als gelungene Gesamtkomposition im roten Kinderwagen.

Beim Fischstand gibt’s dann kein Halten mehr. Roher frischgefangener Hering an Zwiebelwürfeln mit sauren Gurkenscheiben, serviert auf silberglänzenden Pappschalen: Umsonst gelebt, wer hier nicht zugreift! Alle essen im Stehen, die nahegelegenen Bänke sind wegen Corona abgesperrt.  

Haring mit Fähnchen

Dudoks Vermächtnis
Wer genau hinschaut, bemerkt in Hilversum eine prägnante architektonische Handschrift. Willem Marinus Dudok war von 1915 bis 1954 zunächst Direktor der Stadtwerke und später Stadtarchitekt von Hilversum. In dieser Zeit hat er in seinem zeitlos schlichten Stil bemerkenswerte Bauwerke geschaffen, die bis heute Bestand haben: Arbeitersiedlungen, Schulen und Sportstadien bis hin zum überregional bekannten Rathaus von Hilversum.

Marinus Dudoks Rathaus von Hilversum

Auf dem Heimweg laufen wir am Café Dudok vorbei. Der Wirt schrubbt gerade die Terrasse, weil die Öffnung der Außengastronomie kurz bevorsteht. Außerdem ist in wenigen Tagen Koningsdag. Bis dahin soll alles wieder schön sein  – so wie es früher einmal war!

Hoffen auf bessere Zeiten

Die wahre Geschichte vom Corona-Marathon

Die Schlacht bei Marathon, Bildquelle: Die Welt, picture-alliance/ Mary Evens Pi

Der tapfere Pheidippides
Je länger die Krise andauert, desto häufiger wird in der öffentlichen Debatte das Bild vom Marathonlauf bemüht. Doch hilft uns diese Metapher wirklich weiter? Sind wir nach 42,1 Kilometern tatsächlich schon am Ziel? Historiker vermuten schon länger, dass der Tageläufer Pheidippides 490 Jahre vor Christus weit mehr als nur die knapp 40 Kilometer von Marathon nach Athen gelaufen ist, um den Sieg über die Perser zu verkünden. Denn es war wohl nur die letzte Etappe eines Ultramarathonlaufes, der ihn zunächst von Athen auf den Peloponnes nach Sparta (220 km) führte, um die Spartaner im Kampf gegen die Perser zu Hilfe zu rufen. Von Sparta lief Pheidippides wieder zurück zum Schlachtfeld bei Marathon (250 km). Von dort schleppte er sich schlussendlich nach Athen (33 km), wo er mit der Verkündigung des Sieges vor Erschöpfung tot zusammenbrach. So erzählt es die Legende. Wird so auch unser Corona-Marathon enden?  

2500 Jahre später lohnt es sich, an die vollständige Geschichte des Marathonlaufs zu erinnern. Denn die Ausdauer eines Pheidippides könnte uns in diesen unübersichtlichen Zeiten zum Vorbild gereichen. Wie wir heute wissen, bedurfte es im Frühjahr 2020 eben nicht nur 42 Tage eines Lockdowns, um aus der Krise wieder herauszukommen. Wenn wir die Infektions- und Todeszahlen von damals mit jenen von heute vergleichen, dann könnten sie, wie der zynische Herr Bolsonaro einst spottete, tatsächlich wie ein „kleines Grippchen“ erscheinen.

Mehr als 2,6 Millionen Corona-Tote
Zwölf Monate nachdem die WHO den Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie und damit zu einer weltweiten Bedrohung erklärt hat, dokumentierte die New York Times am 19. März 2021 folgende Zahlen: Weltweit haben sich nachweislich mehr als 121 Millionen Menschen mit COVID 19 infiziert. Mehr als 2,6 Millionen sind mit und an der Infektion verstorben – über 600 Mal mehr als im März 2020, bis dahin waren es „nur“ 4300 Tote.

Wie die folgende Graphik zeigt, steigt die Kurve der 7-Tage-Inzidenzen seit Februar 2021 weltweit wieder spürbar an. Die Hoffnung auf eine Wende nach dem Höchststand um die Jahreswende 2020/21 ist verflogen. Wir sind am Beginn einer dritten Corona-Welle. Wird es diesmal die letzte sein, bevor wir das Virus endlich unter Kontrolle bekommen?  Wir erinnern uns (vielleicht) an die spanische Grippe. Diese letzte große Pandemie kam in drei Wellen. Zwischen 1918 und 1920 forderte sie laut WHO rd. 45 Millionen Menschenleben.[1]   Von diesen Zahlen sind wir heute noch weit entfernt.

Quelle: New York Times online vom 19.3.2021

Jede Impfung ist eine gute Impfung
Zurück ins antike Griechenland: Wie hat es Pheidippides geschafft, dass die Spartaner den Athenern noch rechtzeitig zur Hilfe eilten? Übertragen auf heute stellt sich die nicht eben triviale Frage: Werden wir in der Lage sein, rechtzeitig genügend wirksame Impfstoffe zu produzieren und zu verabreichen, damit die Zahl der Corona-Toten nicht weiter ansteigt? Seit Dezember werden uns jeden Abend Bilder entblößter Oberarme gezeigt. Dann kommt die Spritze mit der lebensrettenden Injektion. Wie oft werden wir uns das noch anschauen müssen, bis wir endlich selber dran sind?

In Deutschland sind wir stolz, dass der erste Impfstoff ausgerechnet an einem Ort mit der verheißungsvollen Mainzer Adresse „An der Goldgrube 12“ entwickelt wurde. Mehr als 400 Millionen Impfungen wurden laut Datenbank der NYT vom 18.3.2021 inzwischen weltweit getätigt, die meisten davon mit dem Stoff von BionTech Pfizer. Im weltweiten Schnitt sind das 5,2 Impfdosen pro 100 Einwohner.

Absolut betrachtet ist das ein riesiger Fortschritt, relativ aber noch viel zu wenig.  Die bekannten Impf-Spitzenreiter sind Israel, die Seychellen, die Vereinigten Arabischen Emirate und Chile. Doch auch in großen Flächenstaaten wie in Großbritannien (27 Mio. Impfungen) oder den USA (113 Mio.) schreiten die Impfkampagnen erkennbar voran. Deutschland liegt derzeit mit 9,9 Mio. Impfungen und 12 Dosen pro 100 Einwohner auf Platz 38. Die Regionen Asien, Afrika und Ozeanien liegen dagegen deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt. In über 35 Ländern wurde bisher erst weniger als 1 Prozent der Bevölkerung geimpft.  

Ein lebenslanger Kampf
Rd. 70 (Doppel-) Impfungen pro 100 Einwohner bräuchte es – so die Experten – um Herdenimmunität zu erreichen. Nicht nur bei uns, sondern grenzüberschreitend überall. Bezogen auf die Weltbevölkerung müssten also in einer ersten Impfrunde rd. 5 Milliarden Menschen versorgt werden, je nachdem, ab welchem Alter Kinder ebenfalls geimpft werden müssen.  Zudem festigt sich die Erkenntnis, dass die immer neuen Mutanten mit hoher Wahrscheinlichkeit jährliche Auffrischungsimpfungen erforderlich machen. Bei stetig wachsender Weltbevölkerung bedürfte es also 5-6 Milliarden Impfungen jährlich. Das ist eine Herkulesaufgabe. Wir werden also das Virus und seine Mutanten ein Leben lang bekämpfen müssen. Gut möglich, dass noch weitere, heute noch unbekannte tödliche Viren hinzukommen. Da mutet der Lauf des Pheidippides schon fast wie ein Sonntagspaziergang an.

Gut organisiertes Testzentrum am Frankfurter Flughafen, Quelle: Sigrist

Wir werden ungeduldig…
Ungeachtet dieser Herausforderungen haben viele Menschen hierzulande schon längst die Geduld verloren. Zugegeben: Es ist bequemer, in den Chor der Missmutigen einzustimmen, als den anstrengenden Blick auf die noch vor uns liegende Wegstrecke zu richten.

Im Fernsehen sehen wir immer wieder diese himmelblaue Rückwand des Pressesaals im Kanzleramt mit den vier leeren Stühlen davor. Anfang März 2021 immerhin schon zum 19. Mal. Haben sich die verantwortlichen Politiker alle klammheimlich davongeschlichen? Doch dann kommt Frau Merkel zu später Stunde doch noch aus der Konferenz mit den Ministerpräsident*innen heraus und erklärt uns mit nicht mehr ganz frischer Miene, wie es mit Deutschland weitergeht. Danach dürfen der Herr Söder mit schon wildem Haupthaar und der etwas strenge Herr Müller aus Berlin als Vertreter der Länder auch noch etwas sagen, damit eben alles von allen gesagt wurde. Bis alle fertig geredet haben, bin ich schon über meinem Weinglas eingeschlafen. So versacken wir nach 12 Monaten Pandemie in unserem abendlichen Corona-Ritual.

… und suchen Sündenböcke
Wie konnte es so weit kommen? Es hatte doch alles so gut angefangen. Wir hatten scheinbar alles im Griff und niedrigere Inzidenz- und Todeszahlen als unsere zögernden Nachbarn. Damals sind wir brav zuhause geblieben, als die Zahlen noch niedrig waren. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt, drängen raus und unterschätzen die ungleich höheren Risiken der Mutanten. Trotzig erfreuen wir uns an den unmaskierten Salsa-Tänzern im Frankfurter Ostpark und ärgern uns über ständig beschlagene Brillengläser, wenn wir beim Bäcker das Kleingeld zählen. Und während wir noch vor kurzem nicht ohne Häme über den Atlantik geschaut haben, registrieren wir erstaunt, dass dort jetzt alles viel schneller geht. In den USA sind inzwischen 11 Mal mehr Menschen als in Deutschland geimpft worden.  

Schade, dass Donald nicht mehr da ist! Denn über ihn konnten wir nach Belieben schimpfen, ohne über die eigenen Fehler zu stolpern. Jetzt aber, wo der nette Herr Biden Präsident ist (aber unter Berufung auf den „Defense Production Act“ ebenso entschlossen amerikanische Interessen verfolgt), müssen wir uns neue Blitzableiter suchen. Dazu haben wir uns wahlweise Gesundheitsminister Spahn oder die EU oder beide zusammen auserkoren. Alles was schief läuft, bekommen sie aufs Butterbrot geschmiert: Die verschleppte Digitalisierung in Deutschland, die dazu führt, dass manche Gesundheitsämter lieber das Faxgerät als die Software für die Übermittlung der Inzidenzzahlen nutzen, die Lieferengpässe bei den Impfstoffen und Selbsttests oder die Versäumnisse auf Länderebene bei ihrer Verteilung. Wir sind eben genervt und suchen Sündenböcke.

Von Bazookas und Wasserpistolen
Weltweit haben Regierungen seit März 2020 unvorstellbare Summen an Hilfsgeldern bereitgestellt, um betroffenen Menschen unter die Arme zu greifen und die Wirtschaft nicht zum Erliegen zu bringen. Die Aktienmärkte haben einen ebenso unvorstellbaren Boom erlebt. Doch trotz aller Hilfen sind viele Menschen in ernste Schwierigkeiten geraten. Nicht krisenfeste Strukturen haben sich als besonders anfällig erwiesen. In Deutschland wird die viel zitierte Bazooka von Finanzminister Scholz von manchen als Wasserpistole verhöhnt, weil sie an falschen Stellschrauben ansetze. Die in Krisenzeiten gern geforderten „schnellen und unbürokratischen“ Hilfen kommen – eben weil sie möglichst einfach strukturiert wurden  – bei vielen, aber nicht bei allen mit den erwünschten Wirkungen an. Eine belastbare Bilanz des Corona-Managements werden wir wohl erst in ein paar Jahren ziehen können.  

Ist unser Corona-Leben schon normal?
Unterdessen geht unser Corona-Leben scheinbar ganz normal weiter. Bei den Antigentests ertragen wir tapfer das Herumstochern in unseren Nasenlöchern. Wir melden unsere alten Eltern, Tanten oder Onkel bei den Impfzentren an, bekommen mehr oder weniger schnell Termine zugewiesen und sind beeindruckt von den überaus freundlichen Mitarbeiter*innen vor Ort.  Doch anderntags werden Impftermine auch wieder abgesagt, weil plötzlich der AstraZeneca Impfstoff vom Markt genommen wird. Beim Discounter ALDI sind die neuen Selbsttests ständig ausverkauft, obwohl täglich neue Lieferungen in die Regale kommen. Unsere selbst genähten Alltagsmasken nutzen wir jetzt als Augenbinden für den Mittagsschlaf. Die nunmehr vorgeschriebenen FFP 2 Masken entsorgen wir aus Nachlässigkeit erst, wenn der Grauschleier unübersehbar geworden ist. Reisepläne machen wir schon lange nicht mehr, und wenn, dann erfordern sie stundenlange Recherchen nach den gerade gültigen Ein- und Ausreise-, Beherbergungs- und Quarantäneregeln. Theaterbesuche kennen wir nur noch aus der Erinnerung, und unsere Kontakte mit der Außenwelt finden überwiegend digital statt. Persönliche Verabredungen stehen jetzt immer unter Corona-Vorbehalt.

Doch allmählich, wenn das Leben immer eingeengter wird und die Aussicht auf einen befreienden Impfpass wächst, wird wohl auch die Zahl der Impfgegner sinken. Man muss die Pferde nur zum Wasser bringen…

Da wollen wir (fast) alle hin, Quelle: Sigrist

Ich habe Freunde aus aller Welt gefragt, wie sie die Pandemie erleben. Ein Freund in Arizona freut sich, dass er seine Kinder endlich wieder in die Schule bringen kann. Eine Freundin auf den Philippinen schreibt, dass ihre 13-jährige Tochter überhaupt nicht mehr aus dem Haus darf. Ein Freund in Belgien beklagt die fortgesetzten Freiheitsbeschränkungen und ein Vetter aus Italien berichtet, wie sich ganze Freundesgruppen über den Umweg einer Übernachtungsbuchung in Hotelrestaurants zum Feiern treffen. Überall ist die Unsicherheit groß, schwindet das Vertrauen in die Politik. Der um sich greifende Unmut beflügelt die Suche nach Schlupflöchern.

Kraft tanken für den Ultramarathon
Der Kampf der Athener gegen die Perser dauerte übrigens mehrere Jahrzehnte. Doch anders als bei unserem Helden Pheidippides, der in Athen nach Verkündung des Siegs tot zusammenbrach, stehen die Chancen gut, dass wir in unseren Breiten mit einem blauen Auge ins Ziel kommen. Das schmälert nicht die Trauer über die Toten und die Sorge über die Spätfolgen überstandener Infektionen. Wir haben das Virus und seine Varianten zweifellos unterschätzt und werden es nun lebenslang in Schach halten müssen.

Für Milliarden Menschen aber, die schlechteren Zugang zu Impfungen haben oder unter Regierungsversagen leiden, ist der Corona-Marathon noch lange nicht vorbei. Deshalb müssen die internationalen Impfkampagnen entschieden weiter ausgebaut werden. Das ist der eigentliche Kraftakt, der noch bevorsteht. Er verlangt unsere ganze Solidarität, liegt aber auch im Eigeninteresse, sofern wir eines Tages wieder über unseren Tellerrand schauen wollen.  Das Durchhaltevermögen eines Pheidippides könnte uns dabei anspornen.


[1] Pandemien – Todesfälle ausgewählter Krankheitsausbrüche | Statista

Mit Opa durch Küsnacht

(aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Kinderwagenperspektive

Rundstrecke:  Im Wiesengrund – Untere Heslibachstraße – Schule – Reformierte Kirche Küsnacht – Dorfstraße – Zürichstraße – Unterführung S-Bahn – Unter Dorfstraße – Poststraße – Postweg – Unterführung Seestraße – Hornweg – Hornelangpark – Spielplatz – Hornweg – Zehntentrotte – Seestraße – Im Hörnli – Schiffsanleger Küsnacht Heslibach – Freihofstraße – S-Bahn Unterführung – Untere Heslibachstraße – Im Wiesengrund; ca. 4 km.  

4 km mit dem Kinderwagen durch Küsnacht (mit Google Maps)

Der Auftrag

Es ist reiner Zufall, dass meine Enkelin ihre erste Dienstfahrt mit Opa ausgerechnet in Küsnacht, an der Goldküste des Züricher Sees antritt. Der Auftrag an Opa lautet schlicht: Drei Tage die elfmonatige Paula hüten (aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ist der Name frei erfunden).  Ich erhalte alle Freiheiten, verfüge als Grundausstattung über einen geländegängigen Kinderwagen, jede Menge Windeln in Größe 4 sowie über eine Auswahl etwas fad schmeckender Hipp-Gemüse-Gläschen. Ferner erhalte ich Hinweise zu Einkaufsmöglichkeiten sowie eine Einführung in die Wunder des Thermomix-Kochers für die Zubereitung von Gemüsebrei.

Paula ist ein überaus aufgewecktes Mädchen, das jedoch an Opas kunstvoll aufgebauter Kugelbahn enttäuschend wenig Interesse zeigt. Mit raschen Handbewegungen hat sie die Konstruktion blitzschnell wieder dem Erdboden gleich macht. 

Also ändern wir das Programm und machen uns auf zur Erkundung des 14-Tausend-Seelen-Dorfes Küsnacht. Paula wohnt hier mit ihren Eltern erst seit wenigen Monaten. Für sie und mich ist alles neu. Paula hat immerhin einen Schweizer Pass und ist damit Einheimische. Ich bin von auswärts angereist und verbinde mit der Schweiz leider nur wenig mehr als Schweizer Käse.

Grüezi miteinand‘, werden der Kinderwagen und ich freundlich von Passanten gegrüßt. Doch bis ich vom deutschen Guten Tag, oder vom Tiroler Grüß Gott endlich umgeschaltet habe, ist es für eine Erwiderung längst zu spät. Grüezi, Grüezi, Grüezi, grüße ich nun mehrmals verstohlen den Kinderwagen von hinten. Für die nächste Begegnung sind wir nun schon besser vorbereitet! Jedenfalls ignorieren die Leute wohlwollend den unverkennbar deutschen Akzent des Opas.

Paula und ich rollern frohgemut vorbei an hübschen Villen mit aufgeräumten Vorgärten. Viele Häuser stammen aus der vorigen Jahrhundertwende, andere sind neueren Datums, weitere werden gebaut. Küsnacht wächst und wirkt gediegen, sauber und ordentlich. Auf der Homepage der Gemeinde erfahre ich neben vielen anderen interessanten Dingen, dass der Ort mit dem goldenen Kissen im Wappen auch solide Steuereinnahmen einfährt.  

Von unserem Ausgangspunkt im Wiesengrund kommen wir schnell auf die Untere Heslibachstraße und zur örtlichen Schule. Neben dem adretten Schulgebäude liegen ein großer Sportplatz und gleich daneben auch noch eine Schwimmhalle, aus der gerade zwei Schülerinnen mit klatschnassen Haaren herauskommen. Statt Schwyzerdütsch schwatzen sie auf Englisch miteinander. Das verwundert nicht, wenn man weiß, dass in Küsnacht ausweislich der Dorfstatistik rund 25% aller Einwohner als Ausländer registriert sind.  Nicht wenige von Ihnen dürften ihr (gutes) Geld im nahegelegenen Zürich verdienen.  Gleich gegenüber der Schule holt eine Mutter ihren Filius aus der Kita ab.  

Es ist ein wunderbar milder Oktobernachmittag und offensichtlich Zeit für Mütter und polnische Au Pair Mädchen, die Kinder von Schule oder Kinderstätten abzuholen. Ja, ich begegne zu dieser Stunde tatsächlich keinen Vätern und lediglich einem türkischen Opa, der mit Enkel und Fahrrad unterwegs ist. 

Riesling für die Reformierte Kirche?

Vor der Reformierten Kirche Küsnacht machen wir einen kurzen Halt, denn mitten im Dorf erstreckt sich zu meiner Überraschung ein großer Weinberg. Die Trauben sind längst gelesen. Doch wenn ich mich recht an das Gläschen vom Vorabend erinnere, könnten sie sich bald in einen ansprechenden Riesling verwandeln. Der Weinbau, so steht’s in der Geschichte Küsnachts geschrieben,  hat an diesen sonnenverwöhnten Hängen des Zürichsees eine lange Tradition.

Die Kunst des Kinderwagenschiebens

Zurück zu meinen großväterlichen Pflichten. Paula hat ihr anfängliches leicht nörgelndes Gemurmel schon nach den ersten 500 Metern unserer Spazierfahrt eingestellt und ist mit der Bewegung des Kinderwagens selig eingeschlafen. Die Mütze ist ihr über die Augen gerutscht. Da hängt sie nun wie eine Augenbinde. Den Schlaf unterbricht sie auch nicht, als ich den Kinderwagen reichlich unsanft Stufe für Stufe und Schlag auf Schlag vom Kirchplatz hinunter zur Dorfstraße manövriere. Klassischer Anfängerfehler – natürlich hätte ich die barrierefreie Route rechts um die Kirche herum zum Dorfplatz nehmen sollen.

Tatsächlich ist Küsnacht fast überall barrierefrei. Ob es nun durch die Unterführungen unter der stark befahrenen Seestraße oder über die Rampen zu den  S-Bahngleisen geht, mit dem Kinderwagen kommt man überall gut hin. Mühsam wird es nur, wenn man die Hügel in die höher gelegenen Wohnviertel hinaufläuft, oder gar entlang des Tobel, dem Küsnachter Dorfbach, aufwärts die Kammhöhe erklimmen will.

Das machen wir heute nicht, sondern steuern stattdessen auf das Seeufer zu. Ein Höhepunkt ist zweifellos die Hornanlage mit dem sogenannten Delta, durch das der Dorfbach in den Züricher See plätschert. Das „Delta“ hat in etwa die Spannweite einer ausgezogenen Hundeleine. Obwohl hier also keine spektakuläre Flusslandschaft aufwartet, strahlt der Ort eine wohltuende Ruhe aus. Am kleinen Strand stehen Stühle herum, die zu einer kontemplativen Pause einladen.

Kontemplatives am Dorfbachdelta

Hinter mir liegt der offensichtlich beliebte Spielplatz der Hornanlage. Es trifft sich gut, dass gleich daneben eine gepflegte öffentliche Toilette ist. Warum erwähne ich das? Weil man sich als Opa mit schwächelnder Blase schnell die Frage stellt, wie man dieses Problem löst, ohne das Enkelkind allein zu lassen. Aber glücklicherweise findet sich am Spielplatz schnell eine freundliche Mutter, die auf den Kinderwagen aufpasst. Als ich mit Paula tags drauf durch Zürich spaziere, treffe ich im Café wieder eine hilfsbereite Dame, die mir beruhigend erklärt: „Ich habe reichlich Großmuttererfahrung!“

Viel Prominenz am Seeufer
Weil Paula immer noch schläft und auch noch ein bisschen zu klein ist, heben wir uns die Erkundung des Spielplatzes für ein anderes Mal auf. Stattdessen biegen wir rechts in den schmalen Hornweg ein und kommen zum interessantesten Abschnitt unserer Spazierfahrt. Der Hornweg verläuft rd. 50 Meter parallel zum Seeufer. Hier stehen die schönsten Landhäuser und Villen Küsnachts. Mal öffnet sich der Blick auf herrliche Gärten mit Kieseinfahrten (wer Kies hat, hat Kies), mal endet er abrupt vor hohen Metallzäunen. An diesem Seeufer hat übrigens der deutsche Sozialist August Bebel Ende des 19. Jahrhunderts eine Villa bezogen; und hier findet man auch das hübsche Gelände des Carl Gustav Jung Instituts, in dem psychotherapeutische Fortbildungen angeboten werden. Das sehenswerte ehemalige Wohnhaus des Psychiaters und seiner Frau liegt nur ein paar Hundert Meter weiter an der Seestraße und ist heute als Museum zugänglich.

Der mit C.G. Jung gleichaltrige Thomas Mann (1875-1955), der seine Schweizer Exiljahre 1933-38 mit Familie ebenfalls in Küsnacht verbrachte, wohnte unterdessen weiter oben am Hang in der Schiedhaldenstraße. Zeitzeugen berichten indes, dass er und die Küsnachter nicht so recht miteinander warm geworden sind.   

Nicht zugänglich ist auf der Seestraße das Schloss Algonquin, der Wohnsitz von Tina Turner, die sich, inzwischen über achtzigjährig, nach einer Weltkarriere als Sängerin an den Züricher See zur Ruhe gesetzt hat. Wenn Paula größer ist, werden wir die Boxen aufdrehen und uns gemeinsam den Klassiker „Proud Mary“ anhören. Kann aber auch gut sein, dass Paula statt Tina Turner eher TikTok cool findet.

Nachwuchs für Tinas Fangemeinde?

Unsere Spazierfahrt am See endet am Schiffsanleger Küsnacht Heslibach. Von hier könnte man direkt nach Zürich hinüber schippern oder aber das eigene Boot zu Wasser lassen. Mein Blick schweift über das Seeufer und hinüber zu den schneebedeckten Schweizer Hochalpen. Das genügt als Eindruck, mehr gibt es zu diesem schönen Fleckchen Erde nicht zu sagen. Außer, dass wir jetzt ganz schnell nach Hause müssen, um im Thermomix Gemüsebrei zu zaubern.

Schweizer Idylle am Zürichsee

30 Jahre später: Neues Leben an der Mauer

Mit dem Rad unterwegs auf dem Berliner Mauerweg

Mauer mit Durchblick: An der Gedenkstätte Bernauer Straße

Die Route: Radweg entlang der Stadtroute des Mauerwegs. Start: S-Bahn Station Frohnau im Norden Berlins, Ziel: S-Bahn Station Flughafen Schönefeld; ca. 55 km. Umfassende Informationen sowie Kartenmaterial zum Herunterladen finden sich auf den Webseiten des Berliner Senats:  https://www.berlin.de/mauer/mauerweg/.   

Ganz herum um das ehemalige West-Berlin sind es rd. 160 km.

Die Last der Meinungsfreiheit

An der Spreepromenade, direkt hinter dem Berliner Reichstag, wird Demokratie transparent gemacht. Auf 19 Glasplatten hat der israelische Künstler Dani Karavan Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes eingravieren lassen. Ich nähere mich der 5. Platte. Doch es fällt mir schwer, die kleinen weißen Buchstaben zu entziffern. Das Auge wird immer wieder abgelenkt. Denn hinter der Scheibe schimmern Gebäude und Bäume durch. Auf dem Glas sehe ich mein Spiegelbild, zusammen mit den Spiegelungen weiterer Passanten.

Gläsernes Grundgesetz vor dem Reichstag

Ist das der tiefere Sinn dieser Installation? Soll man sich mehr als nur einen Augenblick Zeit nehmen, um den Text zu entziffern?

Artikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung … frei zu äußern…“

Die heutige Tour entlang des Berliner Mauerwegs wird es bestätigen: Meinungsfreiheit muss erkämpft werden. Demokraten versuchen, sie um jeden Preis zu schützen. Autokraten scheuen keinen Aufwand, sie zu bekämpfen.  Das ist die Botschaft vom Bau und Fall der Berliner Mauer.

Doch gehen wir erst einmal an den Start auf unserem Weg entlang der Mauer.  An einem wunderschönen und – rückblickend – vergleichsweise harmlosen Corona-Sonntag im September 2020 radeln wir auf der Stadtroute des Mauerwegs von Norden nach Süden quer durch Berlin. Es wird eine Fahrt voller Gegensätze und Überraschungen.

Ich habe mir das zunächst ganz einfach vorgestellt: Rechts vom Weg liegt das ehemalige Westberlin und links das alte Ostberlin. Doch es zeigt sich schnell, dass die Mauer keineswegs geradlinig, sondern mit vielen Ecken und Kanten zwischen den ehemaligen Besatzungszonen der drei Westmächte und der Sowjets gezogen wurde. An vielen Stellen wurden an Häuserfronten nahe der Grenzlinie kurzerhand Türen und Fenster zugemauert.  Im Westen nannte man das Bauwerk „Schandmauer“, im Osten „antifaschistischer Schutzwall“. 28 Jahre lang wurde jedes Ereignis an der Mauer hüben wie drüben propagandistisch ausgeschlachtet. Eine Abstimmung mit den Füssen aber fand erst wieder am 9. November 1989 statt.

Wir starten im Ortsteil Frohnau. Das ist ehemaliges Westberliner Terrain und war schon immer eine gute Wohngegend. Wir fahren an der evangelischen Kirche vorbei und beobachten, wie die Gemeinde ihren Sonntagsgottesdienst wegen Corona ins Freie verlegt hat. Sehr schnell finden wir uns mal diesseits, mal jenseits der Landesgrenze Berlin – Brandenburg inmitten von Feldern und Moorwiesen wieder.

Kaum zu glauben, dass auf diesem Radweg früher der Todestreifen verlief. Jetzt heißt er „Grünes Band Berlin“. Längs des Weges haben sich Kleingartenvereine angesiedelt. Wir treffen auf Wandergruppen, meist rüstige Rentner. Und weil Sonntag ist, überholen wir Väter, die ihren Sprösslingen das Radfahren beibringen. Der Todesstreifen ist zu neuem Leben erwacht. Die Menschen haben ihn wieder in Besitz genommen. Selbst die Wildschweine scheuen sich nicht, des Nachts die frische Grasnarbe immer wieder umzugraben.

Sowjetisches Gedenken

Im Volkspark Schönholzer Heide besichtigen wir das große Sowjetische Ehrenmal. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs von der DDR errichtet, ehrt es über 13.000 Angehörige der Roten Armee, die  im Kampf um Berlin gefallen sind. Rechts und links stehen zwei monumentale Mauerwerke, die spitz in den Himmel ragen. Wir stehen dazwischen und fühlen uns – absichtsvoll? – nichtig und klein. In Großbuchstaben steht auf dem Granit geschrieben:

EWIGER RUHM DEN KÄMPFERN DER SOWJETARMEE, DIE IHR LEBEN HINGEGEBEN HABEN IM KAMPF FÜR DIE BEFREIUNG DER MENSCHHEIT VON FASCHISTISCHER KNECHTSCHAFT

Das wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Hammer und Sichel sind stumpf geworden. Doch der Park ist frisch renoviert und Polizisten sorgen für Ordnung im Gelände. Sich öffentlich und frei erinnern zu können und zu dürfen – das ist auch eine Form der Meinungsfreiheit, die geschützt werden will. Aus Respekt vor der Gedenkstätte werden wir gebeten, unsere Räder zu schieben.   

Schauplatz des 9.11.1989: S-Bahnhof Bornholmer Straße

Schabowskis Pressekonferenz

Nur wenige Kilometer weiter stoßen wir auf den vielleicht wichtigsten Schauplatz der Mauergeschichte: Die Brücke am S-Bahnhof Bornholmer Straße. Um die Bedeutung dieser Brücke zu verstehen, müssen wir uns an den 9. November 1989 zurück erinnern. An diesem Tag hatte das SED Politbüro Mitglied Günter Schabowski seine ebenso legendäre wie fahrige Pressekonferenz zur neuen Reiseordnung für DDR Bürger abgehalten. Die ihn offenbar überrumpelnde Frage eines italienischen Reporters nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reiseordnung beantwortete er zunächst zögerlich, aber dann entschlossen und mit den historischen Worten:

 „… nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich.“[1]

Noch am gleichen Abend des 9. Novembers stürmten die Menschen über die Brücke am Grenzübergang Bornholmer Straße in den Westen. Dies war der Anfang vom Ende der Mauer. 

[1] Live klingt das bei Schabowski so: https://www.youtube.com/watch?v=cV0y0cO3K7w

Ringelpiez am Mauerpark

Inzwischen sind wir im Mauerpark angekommen. Zwischen Pankow und Prenzlauer Berg gelegen,  ist dort gleichermaßen für Unterhaltung wie für Kontroverse gesorgt. Flohmarkt, Karaoke, Künstler und  Musiker aus aller Welt sind über die Jahre zu Publikumsmagneten geworden. Wer nur kurz in die sozialen Medien schaut, erfährt schnell: „This is the place to be!“  Zehntausende von Besuchern leben sonntags im ehemaligen Todesstreifen ihre persönlichen Vorlieben aus  – und gehen dabei den Anwohnern mit Lärm und Dreck gehörig auf die Nerven. Jetzt wird nach Lösungen gesucht, und auch die Corona-Beschränkungen tragen zur Mäßigung bei: Als wir am Sonntagvormittag durch den Park radeln, hören wir leise Töne: Mauerpark unplugged.

Günter Litfin (1937-1961), der erste Mauertote

In der Kieler Straße, in der Nähe des Invalidenfriedhofs, passieren wir die Gedenkstätte für Günter Litfin. Sie ist in einem ehemaligen DDR Grenzwachturm untergebracht. Was hier passiert ist, will ich genauer wissen. Die beiden freundlichen Turmwärterinnen weisen mir den Weg über die steilen Stiegen hinauf zur Beobachtungsplattform im zweiten Stock. Hier oben  hat man einen guten Blick auf den Verbindungskanal zur Spree. Und ich lerne, dass die Wachtürme meist so angelegt wurden, dass es Sichtkontakt zum nächsten Turm gab.

Die Dokumente im Turm erläutern, warum und auf welchem Wege Günter Litfin fliehen wollte. Litfin lebte in östlichen Berliner Bezirk Weißensee und arbeitete als Schneider im westlichen Charlottenburg. Der Mauerbau am 13.8.1961 durchkreuzte seine Pläne, nach Westberlin umzuziehen. Deshalb entschloss er sich zur Flucht.

Ich versuche, die letzten Meter seiner Flucht ein Stück weit nachzuvollziehen. Hinter dem Invalidenfriedhof biege ich links vom Mauerradweg ab in das weitläufige Gelände des Charité-Campus. Die schmucken roten Backsteinbauten aus der vorletzten Jahrhundertwende strahlen eine friedliche Ruhe aus. Genau durch dieses Gelände lief der 24-Jährige Günter Litfin am 24.8.1961 und versuchte dann schwimmend durch den Verbindungskanal am Humboldthafen (nahe der Spree und dem heutigen Hauptbahnhof) die andere Seite zu erreichen. Doch bevor er am rettenden Westufer ankam, wurde er von DDR-Grenzsoldaten erschossen.[1]


[1]Eine Biographie Litfins findet sich hier:  https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Litfin


Chillen oder gedenken? „Weiße Kreuze“ vor dem Reichstag

In Berlins Mitte führt der Mauerweg am Spreebogen entlang mitten durch das Herz des neuen Regierungsviertels. Am Reichstagsufer flanieren Ausflügler, alle paar Minuten tuckert ein Ausflugsboot über die Spree. Nichts scheint mehr an die deutsche Teilung zu erinnern. Nur wer genau hinschaut, sieht drüben am Westufer acht kleine Kreuze stehen. Mit dem massiven Reichstagsgebäude im Hintergrund wirken sie wie verloren. Und doch stehen sie da, um an dieser zentralen Stelle an die weit über hundert  bekannten und unbekannten Berliner Mauertoten zu erinnern. 

High life am Brandenburger Tor

Wir sind inzwischen am Brandenburger Tor angelangt. Nachdem der Platz rund um das Tor 28 Jahre lang hermetisch abgeriegelt war, stellen die umher flanierenden Touristen vermutlich täglich neue Selfie-Rekorde auf.  Und es wird unermüdlich demonstriert. Für oder gegen alles, was den Menschen auf dem Herzen liegt. Meist sind es kleinere Gruppen, die ihre Meinungen kund tun, und das alles friedlich und ohne größere Folgen.

Heute sind die Reichsbürger da. Vor dem Hotel Adlon schwenken ein paar missmutig dreinschauende Gestalten die Reichsfahne. Aus einem Lautsprecher dröhnt Propaganda im pathetischen Tonfall der 1930er Jahre. Ein Schild erläutert: „Das Deutsche Reich ist ein Staat, also ist die BRD, logisch, kein Staat.“ So geht die schlichte Logik der Reichsbürger. Doch am Brandenburger Tor darf auch Unsinn verbreitet werden.  

Junggesellinnen-Abschied am Brandenburger Tor

Ganz unbekümmert zieht jetzt eine Gruppe fröhlicher Mädels vorbei, die Junggesellinnen-Abschied feiert. Wir wenden uns nur allzu gern von den knorrigen Reichsbürgern ab und spenden großzügig für das zukünftige Leben zu zweit.

Mittagsplausch am Kreuzberger Oranienplatz

Die East Side Gallery kommt in die Jahre

Keiner will die Mauer mehr haben, aber jeder will sie noch einmal sehen. An der Gedenkstätte Bernauer Straße bekommt man die Geschichte, an der East Side Gallery das Spektakel vom Bau und Niedergang der Mauer geboten. Hier wie dort stehen noch Mauerreste. Nach einem Zick Zack Kurs quer durch Kreuzberg und vorbei am Oranienplatz kommen wir zur Mühlenstraße. Direkt am Spreeufer zwischen Kreuzberg und Friedrichshain hat man im Jahre 1990 kurz nach der Öffnung ein paar hundert Meter der Berliner Mauer Street-Art Künstlern zur Illustration der Mauergeschichte übergeben. Berühmt geworden ist z.B. das Bild mit dem sozialistischen Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker. „Hilf mir diese tödliche Liebe zu überleben“ hat der Künstler darunter geschrieben. Ein neueres Bild erzählt von der nicht minder verblendeten Mauerliebe Donald Trumps.

East Side Spray Party

Es gibt hier viele künstlerische und parodistische Meisterleistungen. Doch was wir in der East Side Gallery sehen, ist amtlich bestellte Spraykunst. Das anarchistische Motiv, das Überraschungsmoment und das Vergängliche der Street-Art, das bewusste Aufbegehren gegen den gesellschaftlichen Mainstream, mithin also die radikale Inanspruchnahme des Artikel 5 Grundgesetz, das sieht man nicht in der East Side Gallery, dafür aber noch an vielen anderen Berliner Altbaumauern. Noch, muss man sagen, denn die sichtbaren Umbrüche der Wendezeit verschwinden nach und nach aus dem Berliner Straßenbild.

Chris Gueffroy (1968-1989), das letzte Maueropfer[1]

Südlich von Neukölln rollen wir gemütlich unserem Ziel, dem Schönefelder Flughafen, entgegen. Die Nachmittagssonne taucht unseren Weg in ein warmes Licht. Doch die Szenerie täuscht. Am sog. Britzer Verbindungskanal sehen wir am Ufer plötzlich eine Stele, die Chris Gueffroy gewidmet ist. Der 20 jährige gelernte Kellner war zum Grundwehrdienst eingezogen worden, wollte sich aber dem Dienst in der Nationalen Volksarmee entziehen. Am 5.2.1989 fand ein Staatsbesuch in Berlin statt. Irrtümlicherweise nahm Chris Gueffroy an, dass deshalb der Schießbefehl ausgesetzt worden sei. Auch er versuchte über das Wasser zu flüchten. Gueffroy war das letzte Maueropfer, das bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. 9 Monate später fiel die Mauer.


[1] Biographie von Chris Gueffroy: https://de.wikipedia.org/wiki/Chris_Gueffroy

Eine Woche später
Ich radle wieder zum Brandenburger Tor. Schon von weitem bemerke ich, dass der Bär los ist. Überall Sicherheitskräfte. Neugierig nähere ich mich dem Geschehen. Doch unzählige Polizisten schirmen sowohl eine Großdemonstration vor dem Brandenburger Tor, als auch die Gegendemonstration auf der Straße des 17. Juni hermetisch ab. Spontan mit demonstrieren ginge gar nicht. Das können nur die, die pünktlich und angemeldet erscheinen. Auch Demos haben ihre Regeln.

Ein freundlicher Polizist erklärt mir, dass es sich bei der Großdemonstration um den jährlichen „Marsch für das Leben“ handelt. Über die Köpfe der Polizisten hinweg beobachte ich, wie ein katholischer Geistlicher (er gibt sich als Bischof zu erkennen) auf der großen Bühne mit salbungsvollen Worten über den Schutz ungeborenen Lebens predigt. Direkt vor mir streckt eine junge Demonstrantin ein Pappschild in die Luft. Unverblümt meint sie: „Wer vögelt, muss auch gebären!“

Demo und Gegendemo verlaufen geräuschvoll, aber friedlich. Art. 5 Grundgesetz hält, was er verspricht. Die Demonstranten dürfen ihre Meinung, zu Not auch unter Polizeischutz, äußern. Auch die Polizisten haben Glück: Für einige der Hundertschaften bleibt sogar noch Zeit für ein Nickerchen im Mannschaftswagen.

Alpenluft statt Adriastrand: Unterwegs im Quellgebiet des Lechs

Alpenwiese am Arlberg

Wegstrecken:

Zart plätschert das Rinnsal aus dem Kalkstein. Bergblumen blühen in der Morgensonne. Wildhummeln saugen eifrig Nektar ein. Oben in den Felsen klettern Steinböcke.

Andächtig beugen wir uns über die Lechquelle. Nur zögerlich tritt das Wasser ans Tageslicht. Wir befinden uns auf rd. 1800 m Höhe nahe dem Formarinsee am Arlberg. Dies ist der Startpunkt des 125 km langen Lechwegs von der Quelle bis zum Lechfall bei Füssen. Dazu gibt es ein nützliches Serviceheft. Es erläutert, dass der Weg durch eine der letzten Wildflusslandschaften Europas führt. Das macht den Lech bei Wanderern so beliebt, und eben dies wird mit einigem Erfolg vermarktet. Im Corona-Sommer 2020 sind die Gäste besonders herzlich willkommen. Unsere Hotelwirtin erzählt, dass der ganze Ort Lech abrupt am 14. März 2020 unter Quarantäne gestellt und alle Gäste (mit und ohne Corona) nachhause geschickt wurden. Viele Herbergen haben den Betrieb erst wieder im Juni aufgenommen. 

Im August war die Luft in den Alpen wieder halbwegs rein, die Aerosole hinreichend verweht und deshalb haben wir uns die ersten beiden Etappen des Lechwegs vorgenommen und darüber hinaus  die Bergwiesen rund um den benachbarten Rüfikopf sowie die Besonderheiten des Dorfs Lech Zürs erkundet.  

Mit dem Doppeldecker ins Urmeer

Alle 60 Minuten bricht der blaue Doppeldeckerbus Nummer 7 aus dem Dorf Lech kommend in die Bergidylle am Formarinsee ein. Auch wir hatten uns, ausgerüstet mit Lech Card und Mund-Nasen-Schutz mit angemessenem Abstand am Rüfiplatz in Lech in die Warteschlange eingereiht und bis zur Endhaltestelle kutschieren lassen. Der Busfahrer verstand sein Handwerk, auf der engen Bergstraße wurden störende Biker entschlossen weggehupt. Doch als der Bus wieder Richtung Tal entschwunden ist, geht alles wieder seinen gemächlichen Gang. Einige Wanderer machen sich auf zum See oder zur Mittagsjause in der schön gelegenen Freiburger Hütte. Erstwander*innen  versorgen ihre Blasen, weil die Wanderschuhe noch nicht eingelaufen sind. Wir aber schultern geschult unsere Rucksäcke und machen uns flussabwärts auf den Weg.

In trockenen Sommern fällt das Kinderbett des Lechs schnell über längere Strecken trocken. Wir benötigen eine gute Stunde Fußmarsch entlang des Bachlaufs, bis wir endlich ein leises Gluckern hören. Ab jetzt gibt es kein Halten mehr! Über die folgenden 255 km bekommt der Lech Zulauf von unzähligen Gewässern, bis er nördlich von Augsburg in die Donau und Tausende Kilometer weiter ins Schwarze Meer fließt.

Dank fachkundiger Schilder erfahren wir, dass die Hochgebirgsetappen des Lechwegs tatsächlich auf dem Boden des Ur-Mittelmeers Tethys verlaufen. Das ist zwar schon ein paar Millionen Jahre her und auch lange bevor sich das Gelände zu den heutigen Alpen auffaltete. Und doch entdecken wir im Kalkstein Muschelablagerungen, Abdrücke von Seeigelstacheln und anderen Meerestieren.

Wir wandern weiter bergab, immer am Bach entlang. Längst bildet der junge Lech kleine Wasserfälle, drängt sich durch schmale Schluchten und überflutet flachere Passagen. Immer wieder laufen wir über dicht an die Felsen gebaute Holzstege.

Kleiner Wasserfall am Oberlauf des Lechs
Über Holzstege am Wasser entlang

Ein paar Kilometer vor unserem Ziel Lech treffen wir auf eine britische Kleinfamilie. Sie schieben einen Golftrolley vor sich her. Denn hier im Zugertal verläuft der Lechweg oberhalb des feinen Lecher Neun-Loch-Golfplatzes. Beim Abschlag zu Loch 3 begegnen sich beide Welten. Zuerst schlägt der Mann. Wir beobachten, wie Daddy sich sorgfältig den richtigen Schläger heraussucht, konzentriert zum Abschlag positioniert, den Schläger mit halber Körperdrehung ein paar Male Probe schwingt und dann mit voller Wucht den kleinen weißen Ball vielleicht 100 Meter weit, hoch über den Flusslauf des Lechs hinweg, in Richtung Green schlägt. Atempause. Stille. Dann greift die Gattin zum Schläger. Wir laufen weiter. Ob die Bällchen in den Fluten des Lechs oder auf dem Rasen gelandet sind, werden wir nie erfahren. 

Nachhaltiger Tourismus ist teuer
Nach 14 km Wegstrecke sind wir froh, noch vor dem abendlichen Gewitter wieder das Dorf Lech erreicht zu haben. Denn was mit einem kleinen Wetterleuchten und leichtem Grummeln begann, endet nur wenige Minuten später mit einem ausgewachsenen Hagelsturm.

Lech Zürs bietet angenehme Unterkünfte und gehobene Verpflegung (und entsprechende Preisgestaltung). Die Touristikmanager werden nicht müde, Lech als das schönste Dorf in den Alpen zu preisen.  Und tatsächlich ist es dank einer rigorosen Bauverordnung augenscheinlich gelungen, trotz der vielen großen Hotels den dörflichen Charakter des Ortes zu bewahren. Prompt laufen nun einige Protestler auf Plakaten am Wegesrand gegen den Neubau des Gemeindezentrums Sturm. Denn es soll ausnahmsweise nicht mit einem traditionellen alpenländischen Giebeldach, sondern in moderner Holzbauweise gebaut werden.  Ein innovativer Stil, für den die Vorarlberger Holzfachleute weit über die Landesgrenzen bekannt sind.

Biomasse Heizwerk in moderner Holzbauweise

Lech Zürs setzt auf Nachhaltigkeit und Qualitätstourismus – für maximal 10.000 Gäste, wie in hübsch gestalteten Broschüren betont wird. Ganz so klein ist diese Begrenzung indes nicht. Das wesentlich kommerzieller anmutende St. Anton auf der Südostseite des Arlbergs kommt (laut Google) auf 11.400 Betten. Investitionen in die Tourismusinfrastruktur sind teuer und müssen sich eben auch rechnen. 

Beheizt wird Lech Zürs über vier Biomasse Kraftwerke. Das ist ein bemerkenswerter Versuch, die örtlichen Ressourcen klimaschonend zu nutzen. Der Ortsteil Oberlech gilt im Winter überdies als autofrei. Wir wollen das genauer wissen, lassen die Wanderstiefel stehen und fahren mit dem Auto hinauf. In Oberlech angelangt, geraten wir in ein 3 km langes, in den Berg gehauenes Tunnelsystem, über das im Winter die Versorgung der Hotels mit Elektrofahrzeugen sichergestellt wird. Die Gäste gelangen im Winter ausschließlich mit der Seilbahn nach Oberlech. Das ist beeindruckend, bestätigt aber auch, dass nachhaltiger Bergtourismus ganz ohne Eingriffe in die Natur schwierig ist.

Einzigartige Alpenflora und -fauna
Der Arlberg ist in Wahrheit kein Berg, sondern eine Bergregion im österreichischen Bundesland Vorarlberg. Prägend ist, dass er in einer Zone besonders heftiger Niederschläge liegt. Wintersportler erfreuen sich im Winter über sicheren Schnee. Die Einheimischen nehmen stolz für sich in Anspruch, dass hier die Wiege des modernen Skilaufs steht. Wer Stemmbogen fährt, muss fortan wissen, dass der auf dem Arlberg erfunden wurde. In den 1930er Jahren erbaute in Zürs eine kleine Firma namens Doppelmayr den ersten Schlepplift Österreichs. Heute ist sie Weltmarktführer im Seilbahngeschäft.

Wasser und Sonne sorgen für eine einzigartige Artenvielfalt auf den hochgelegenen Bergwiesen. Deswegen machen wir uns, bevor wir die 2. Etappe des Lechwegs antreten,  wieder auf den Weg nach oben.

Wer in Lech Zürs mit einer gültigen Lech Card ausgerüstet ist, hat freie Fahrt auf allen Bergbahnen. Also fahren wir hinauf auf den 2362 m hohen Rüfikopf und wandern rund um das alpine Hochtal mit dem hübschen Namen „Ochsengümple“.

Ochsen treffen wir nicht, hören aber immer wieder kurze Pfiffe, blicken uns um – und sehen nichts. Denn die braungrauen Murmeltiere hocken bestens getarnt vor ihren Löchern, richten sich auf und verharren dort ebenso unbeweglich wie das umliegende Felsgestein. Murmeltierfett wird gern als Mittel gegen Muskel-und Gelenkschmerzen empfohlen. Wir könnten das gut gebrauchen, aber ob es hilft, ist Glaubenssache.

Stetig wacht das Murmeltier

Im sumpfigen Boden und an Hängen mit guter Sonneneinstrahlung entdecken wir ein wahres Alpenblumenparadies. Meine Kenntnis der Bergflora endet leider bei Enzian und Edelweiß, doch was es hier zu sehen gibt, ist auch für Laien ein seltener Genuss. Deshalb blättere ich später eifrig in alten Bestimmungsbüchern nach. Hegi-Merxmüller, Alpenflora, in einer Ausgabe des Hanser Verlags von 1963, ist so ein hilfreiches Nachschlagewerk[1]. Nachdem ich den Staub vom Einband geblasen und die verblichenen Fotos mit meinen Aufnahmen verglichen habe, stelle ich beruhigt fest, dass etliche Gewächse die Jahrtausendwende überlebt haben. Hier eine kleine Auswahl der Arlberger Sommerblüher von 2020, die erfreulicherweise auch Wildbienen reichlich Nahrung bieten.


[1] Wer es moderner haben will, kann auch im Netz nachschauen, z.B. hier: https://www.alpen-info.net/flora/alpenblumen.html

Die ungeheure Kraft des Wassers
Auf der zweiten Etappe des Lechwegs von Lech nach Warth laufen wir durch nasse Wiesen, feuchte Wälder und auf steilen Pfaden rechts oberhalb des Lechs entlang. Jungkühe stehen etwas lustlos auf den Weiden herum. Auch unsere vierbeinige Begleiterin erscheint heute etwas missmutig.  Vom Dauerregen sind wir alle klatschnass, und auch der nun schon kräftige Gebirgsbach schwillt immer weiter an.

Lechschlucht bei Warth

Schon nach rd. 35-40 km hat der Lech seine schmalen Hochgebirgstäler verlassen und fließt durch deutlich flacheres Gelände. Im Ort Bach bei km 53 überquert man den kleinen Fluss noch über eine überschaubare Brücke, doch schon hinter Stanzach bei km 80 geht der Lech über Hunderte von Metern in die Breite. Dort nähern wir uns ein letztes Mal dem Fluss. Über glitschige Steine tasten wir uns im flachen Gewässer voran. Die bloßen Füße werden im kalten Bergwasser schon nach wenigen Sekunden taub. Wir beginnen zu ahnen, welche gewaltigen Kräfte seit Jahrtausenden diese wilde Flusslandlandschaft geprägt haben. Und morgen, wenn es regnet, windet oder schneit, sieht vielleicht schon wieder alles ganz anders aus.  

Lechbett bei Stanzach