Mailand – Streifzüge mit Überraschungen 


Unter dem Schutz der Madonnina
Ich kann mich gar nicht satt sehen an den Mailänder Selfie-Schönheiten. Sie posieren so wunderbar selbstverliebt auf der großen Piazza vor der prächtigen Marmorfassade des Mailänder Doms. Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien, augenscheinlich aus allen Teilen der Welt, haben sich an diesem schon kühlen Novemberwochenende ganz friedlich auf dem Domplatz zum Fotoshooting versammelt.

Ausnahmsweise keine Ukraine-, Israel- oder Palästinenserdemo, sondern viele friedliche Menschen auf einem Fleck. Sicherheitshalber laufen auch ein paar Carabinieri in ihren feschen Uniformen herum, und in einer Ecke des Platzes zeigen Soldaten in Kampfuniform Präsenz. Die freundlichen jungen Männer sehen aber eher wie Models der italienischen  Armee aus, als dass sie ernsthaft jemandem ein Haar krümmen wollten.

Über allen und allem schwebt hoch oben auf der Spitze des Domes die „Madonnina“, wie sie die Milanesi liebevoll nennen, die vergoldete Santa Maria Nascente, nach der auch der Dom benannt ist. Seit gut 250 Jahren fährt sie nun schon in den Himmel auf. Eigentlich sollte die Schutzpatronin der Stadt für alle Ewigkeiten die Höhe aller Mailänder Gebäude begrenzen, doch dann setzte auch in Mailand der Wolkenkratzerboom ein. Was tun, wenn die Hochhäuser nunmehr den Dom überragen? Der Allianz Tower im Mailänder CityLife Stadtteil ist inzwischen das höchste Gebäude der Stadt. Die Madonnina überragt er um mehr als hundert Meter. Die Architekten haben, so wird erzählt, eine „italienische“ Lösung gefunden. Sie haben eine Replika der Madonnina auf den Allianzturm platziert und so die alte Himmelsordnung wieder hergestellt.   

Blick von den Domterrassen auf die Mailänder Skyline und Alpen

Doch verweilen wir noch einen Moment im Dom. Ende des 14. Jahrhunderts wollte sich die einflussreiche Adelsfamilie der Viscontis mit dem Kirchenbau ein unübersehbares Denkmal setzen. Doch bis alles fertig war, hat es mehr als 500 Jahre gedauert. Deshalb diente der Dom auch späteren Machthabern als nützliche Bühne der Selbstinszenierung.  Napoleon Bonaparte nutzte den Dom zwar zunächst als Pferdestall für seine Invasionstruppen, ließ dann aber wichtige Bauarbeiten an der Kirche ausführen. 1805 krönte er sich schließlich im Dom zum König von Italien. Dafür beschaffte er sich eigens die legendäre „Eiserne Krone“ der Langobarden aus dem nahegelegenen Monza.

Der Überlieferung nach wurde in dieser Krone ein eiserner Nagel von der Kreuzigung Christi verarbeitet, deshalb erfreute sich die Krone über Jahrhunderte größter Wertschätzung. Auch Karl der Große ließ sich im Jahr 774 die Eiserne Krone aufs Haupt setzen. Wie bei vielen Reliquien ist die Geschichte der Krone zu schön, um wahr zu sein. Italienische Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass der vermeintliche eiserne Christusnagel tatsächlich aus Silber und deutlich jüngeren Datums ist. Aber Reliquien haben oft wenig mit der Wahrheit zu tun. Man muss einfach an sie glauben. Und als Touristenmagnet sind sie seit ihrer Erfindung auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Darauf hat schon der Mailänder Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco mit feiner Ironie in seinem Roman Baudolino hingewiesen. 

Es zieht sich durch die Geschichte des Abendlandes, dass weltliche Führer allzu gerne der Versuchung erliegen, ihren Machtanspruch mit kirchlichem Segen zu untermauern. Es überrascht deshalb nicht, dass auch Benito Mussolini – inzwischen sind wir im 20. Jahrhundert angekommen – den Mailänder Dom zu propagandistischen Zwecken nutzte. Während seiner Regierungszeit wurde die Domfassade im neo-gotischen Stil vollendet. Ihre ästhetische Vollkommenheit sollte auch die Einzigartigkeit des faschistischen Regimes unterstreichen.

Kunstvolle Strebebögen sichern die Statik des Doms

Heute ist der Mailänder Dom die drittgrößte Kirche der Welt. Ob man nun der Institution Kirche treu ist oder ihr kritisch gegenübersteht – der Kirchenbau ist ein gotisches Meisterwerk! Die Architekten haben es geschafft, die Statik scheinbar zu überlisten. Das lässt sich am besten bei einem Spaziergang auf dem Dach des Doms erkennen: In Abkehr von den klobigen Gemäuern und kleinen Fenstern romanischer Kirchen gelang es den Baumeistern mit Hilfe äußerer Stützpfeiler und Strebebögen große Kirchenfenster zu ermöglichen und den riesigen Kirchenraum mit natürlichem Licht durchfluten zu lassen. Das Spiel der Sonne mit den Glasmalereien biblischer Szenen erzeugt dabei eine besondere spirituelle Atmosphäre.

Eleganz hat ihren Preis: Galleria Vittorio Emanuelle II

Die Macht der Mode
Kirche und Macht, das haben wir gesehen, ziehen sich gegenseitig an. Doch Mailand ist auch Wirtschaftsmetropole und Trendsetter in der Welt der Mode. Hier stehen weithin sichtbar die größten und höchsten Bankhäuser Italiens, aber wer weiß (in Deutschland) schon, dass das Bankhaus Intesa Sanpaolo nach der Bilanzsumme das größte italienische Kreditinstitut ist?  Die Modefirmen Armani, Gucci, Valentino oder Versace, um nur einige zu nennen,  aber kennen vermutlich alle, die gerne Schaufenstershoppen gehen und sich vom schönen Schein allzu gern verführen lassen.

In Mailands Modeviertel sind alle großen Namen präsent. Wir schlendern durch die überdachte Passage der eleganten Galeria Vittorio Emanuele II und spielen das alte Spiel  „Wer hat das schönste Schaufenster“?  Ich entscheide mich für den jungen Herrn mit weißem Jackett und schwarzer Hose von Prada. Er sitzt ganz cool in einem silbrigen Trichter, der mich an ein Düsentriebwerk erinnert. Hoffentlich springt es nicht gleich an.

Der Prada-Mann

Man kann es auf dem Foto kaum erkennen, aber Mann trägt in Mailand nun Hosen, die eigentlich zu kurz sind. Wie bei den Damen kommen damit die männlichen Fesseln besser zur Geltung, deshalb sollte der Schuh elegant und gerne etwas hochpreisiger sein.  In Mailands Boutiquen findet sich dazu die richtige Auswahl. Ein paar Straßenecken weiter treffen wir passend zum Prada-Mann die im ähnlichen Outfit gekleidete Prada-Frau.  

Wir wandern durch die eleganten Straßen rund um die Via Monte Napoleone und Via della Spiga. Hier reiht sich eine exquisite Modeboutique an die nächste. Es fällt auf, dass etliche Schaufenster gerade umgebaut werden. Es muss offenbar immer wieder etwas Neues her, denn der Wettbewerb unter den Modeschöpfern ist groß.

Eher zufällig gelangen wir in den Innenhof eines ehemaligen bischöflichen Palazzos und erleben eine kleine Überraschung! Inmitten der Piazza Quadrilatero steht ein quadratischer fensterloser Tempel mit beigefarbenen Außenwänden. Neugierig laufen wir um das Gebäude herum und entdecken rechts und links vor dem Eingangsportal zwei Damen, gekleidet in beigefarbene Teddymäntel. Über der Tür steht der Firmenname. Jetzt begreifen wir, es sind die Türsteherinnen des Max Mara Tempels. Sie sehen so elegant aus, dass wir, eher rustikal bekleidet, uns nicht trauen einzutreten. Aber wir werden die Teddys wiedersehen!

Wenn man so durchs Mailänder Modeviertel spazieren geht, drängt sich die Frage auf, wer im internationalen Modegeschäft eigentlich die Nase vorn hat?  Das Internet offenbart dazu ein paar Überraschungen. Weltweit wertvollstes Bekleidungsunternehmen ist der breit aufgestellte französische Luxuskonzern LVMH Moet Hennessy Louis Vuitton mit einem Jahresumsatz von rd. 51 Milliarden USD (2020). Das ist keine Kleinigkeit!  Schon auf Platz drei folgt Adidas mit 22,6 Mrd. USD. Prada, das größte italienische Modeunternehmen, kommt auf „nur“ 3,3 Mrd. EUR.  Prada spielt wie Louis Vuitton oder Hermès in der Champions League. Das ist aber nicht zu vergleichen mit dem Massengeschäft.

Mit billig hergestellter Ware wird richtig viel Geld verdient!  In Europa hat die vermutlich nur Fachleuten bekannte spanische Textilgruppe Inditex mit einem Jahresumsatz von 23,6 Mrd. EUR (2022)  und einem Gewinn von beachtlichen 4,1 Mrd. EUR mit großem Abstand die Nase vorn.  Dahinter verbergen sich Labels wie Zara, Massimo Dutti und Bershka. Die in Deutschland bekannten Marken H&M und Zalando folgen in dieser Statistik mit einigem Abstand auf den Plätzen 2 und 3.  „Fast Fashion“ erlebt derzeit einen Boom. Doch das Geschäft mit trendiger Massenware hat auch seine dunklen Seiten. Denn die Wertschöpfungsketten sind intransparent, die Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern häufig sehr prekär und die Umweltbelastungen der Wegwerfmode erheblich.   

Doch zurück nach Mailand.  Am Abend sind wir im Ausgehviertel Brera unterwegs und gönnen uns in der bekannten „Jamaica Bar“ einen ersten Aperitif.  Um uns herum sind auffallend viele Duftboutiquen angesiedelt. Man kann sich hier alles Mögliche auf den Handrücken sprühen und hoffen, den richtigen Riecher zu haben. Vor einem Schaufenster bleibe ich wie gebannt stehen. Da ist er wieder, der beige Teddymantel! Die Dame in ihm testet ein Parfüm.  Ich bin jetzt doch neugierig und google wenig später nach dem Preis des Outfits: Für schlappe zwei bis dreitausend Euro ist das gute Stück schon zu haben. 

Auf der Suche nach dem besten Duft

Die Macht der Lust
Sonntagmittag kommt die Sonne raus und deshalb machen wir uns auf den Weg zu den Navigli. Da steckt das Wort navigare drin: Es handelt sich um die Kanäle von Mailand. Sie durchzogen einst die gesamte Mailänder Innenstadt. Bis heute ist Mailand über solche Kanäle mit dem Lago Maggiore und dem Lago de Como verbunden, und früher waren sie wichtige Transport- und Handelsrouten.  Nicht zuletzt wurde der grau-rosa Marmor für den Bau des Mailänder Doms aus dem rd. 100 km entfernten Candoglia über diese Kanäle herbeigeschifft.

Heute sind die Navigli ein munteres Ausgehviertel mit vielen Kneipen und Läden. Wir kehren auf gut Glück in der „La pizzeria Tradizionale“ am Naviglio Grande ein und sitzen gemütlich inmitten von  Mailänder Groß- und Kleinfamilien, denn sonntags bleibt bei der Mamma die Küche kalt. Auf dem Rückweg schlendern wir über den Corso di Porta Tricinese und auf der Via Torino, eine der älteren Einkaufsstraßen Mailands, zurück in die Innenstadt. Natürlich finden sich auch hier jede Menge sehenswerter Kirchen und Bauwerke, doch insgesamt hat diese Gegend wenig von der Noblesse des Modeviertels. Hier reihen sich Fastfoodketten und Billigoutlets für jeden Geschmack aneinander. 

Auf dem Corso di Porta Ticinese wartet eine auffallend große Schlange junger Menschen auf Einlass in einen scheinbar unscheinbarem Laden. Ich schaue durchs Fenster und beobachte, wie junge Damen in weißen Schürzen mit sehr langen Fingernägeln und sehr langen Wimpern bunte Gebäckstücke verkaufen.  Der Laden heißt „Mr. Dick“ und versteht sich als „La prima sexy pasticceria en Italia con dolci piu cool del momento“. Frei übersetzt, werden hier die süßesten erotischen Leckereien von ganz Italien angepriesen. Der Renner sind Waffeln in Penisform und Vulvas, ausgebacken zu zarten rosa Cupcakes.  Das ist allerdings Geschmackssache.

Mailänder Straßenkünstler

Die Macht im Staat: Giorgia Meloni vs. Elly Shein
Von Mailand aus haben wir unsere lombardische Verwandtschaft besucht. Und selbstverständlich wollten wir von ihnen wissen: Wie haltet ihr es mit Giorgia Meloni, der italienischen Ministerpräsidentin von der postfaschistischen Partei der Fratelli d‘Italia?  Ein gutes Jahr sei sie nun schon im Amt und habe ihre Drei-Parteien-Regierung relativ geräuschlos zusammen gehalten, wird uns berichtet. Bei so sperrigen Partnern wie Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega und Antonio Tajani von der konservativen Forza Italia sei das ein Erfolg, denn Regierungen in Italien halten im Schnitt nicht länger als 18 Monate. Nach einem Bericht von Bloomberg, einer US-Nachrichtenagentur, halten sich Melonis Zustimmungswerte, anders als bei ihren Vorgängern, auch nach 13 Monaten im Amt solide bei knapp 30%. Sie wird als self-made woman wahrgenommen, die niemandem außer sich selbst und engsten Beratern vertraue. Ihre Politik gilt als pragmatisch und ist trotz aller Wahlkampfrhetorik EU-freundlich, wohl auch, weil sie auf EU-Gelder angewiesen ist.  In der Migrationspolitik, das kann man auch in deutschen Zeitungen lesen,  folgt ihr inzwischen die gesamte EU auf dem Kurs, illegale Einwanderung stärker bekämpfen zu wollen.  Die Parteien der politischen Mitte, so sagen uns unsere Verwandten,  seien in Italien bedeutungslos geworden. Die linke 5-Sterne-Bewegung habe sich völlig diskreditiert. 

Eine neue Hoffnungsträgerin der linken Mitte könnte indes Elly Shein werden. Die Juristin mit US-amerikanischen, schweizerischen und italienischem Pass, war seinerzeit Wahlkampfhelferin Barack Obamas und wurde vor kurzem zur Präsidentin der italienischen Sozialdemokraten gewählt. Die erst 38-jährige Shein wird in den italienischen Medien als Anti-Meloni hochstilisiert. Zwei Powerfrauen, von denen sicher noch viel zu hören sein wird. Das ist neu in der italienischen Politik. 

Auf dem Weg zum Mailänder Flugplatz Linate steigen wir ein in die grüne Hölle. Die Wagen der kürzlich eröffneten U-Bahnlinie M 4  sind mit tropischen Dschungelbildern ausgeklebt.  Fai volare tuoi sogni, lass deine Träume fliegen, so lockt die Lufthansa und soll uns heute eigentlich ins gar nicht so tropische Frankfurt fliegen. Tatsächlich hat der Kranichflieger kürzlich den Kauf von zunächst 41% der ITA Airways beschlossen. Ziel ist offenbar, zahlungskräftige Mailänder Kundschaft über das Frankfurter Drehkreuz in alle Welt ausfliegen.  Mal schauen, ob das klappt.

Über einen großen Mailänder haben wir leider überhaupt kein Wort verloren. Leonardo da Vinci liegt im Mailänder Dom begraben, doch sein Genie ragt über alle Madonninas hinaus. Um ihn angemessen zu würdigen, wäre ein viel gewichtigerer Streifzug als dieser hier vonnöten.

Die weiße Diva zeigt sich gnädig – Eine Wanderung rund um den Mont Blanc

Blick auf das Massiv des Mont Blanc (4810 m) von Südosten aus


Dieser Bericht beschreibt eine Wanderung rund um den Mont Blanc im Juli 2023, die vom DAV Summit Club angeboten und begleitet wurde. Er gibt die persönliche Sicht des Verfassers wieder.


Morgens um viertelvorsieben gibt’s am Frühstücksbuffet ein Gedränge wie an der Sektbar in der Theaterpause. Eine junge Dame mit sorgsam geflochtenen Zöpfen füllt sich bedächtig Joghurt in eine Schale, wendet sich dann den Müsliangeboten zu, nimmt hier ein Löffelchen und von dort noch ein Portiönchen und hinter ihr staut sich die Schlange der Wartenden bis auf den Flur. Die Auberge du Mont Blanc im Schweizer Bergdorf Trient ist mit über 60 Gästen ausgebucht. Es ist Hochsaison auf der Wanderroute rund um den Mont Blanc.

Einmal Mount Everest und zurück
Tags zuvor haben wir unsere Königsetappe geschafft. Über 1000 Höhenmeter geht es in hochalpinem Gelände steil hinauf zum 2665m hohen Joch des Fenêtre d’ Arpette, dann wieder 1400 m hinunter mit wunderbaren Blicken auf den Trientgletscher am Nordrand des Mont Blanc Massivs. Zehn Wanderstunden stehen am Ende auf dem Tageskonto. Drei Viertel der Rundstrecke liegen nun hinter uns.

Die „Route du Mont Blanc“ – es stimmt schon, was überall geschrieben steht  – ist eine der schönsten und abwechslungsreichsten Fernwandertouren in den Alpen. Sie ist aber auch eine physische und mentale Herausforderung, denn nach dem Jo-Jo-Prinzip geht es jeden Tag meist mehr als 1000 Meter rauf und 1000 Meter wieder runter. Da hilft Bergerfahrung und Kondition, auch wenn die Wege – mit wenigen Ausnahmen – technisch nicht schwer zu laufen sind. Acht Wandertage dauert unsere Umrundung. Am Ende werden wir acht Pässe überquert und – alle Aufstiege zusammengenommen – einmal den Mount Everest erklommen haben. 

Blick auf den Trientgletscher, im Hintergrund die Aiguille de Tour (3544m)
 

Rustikale Unterkünfte und reichhaltiges Essen
Zurück in die Auberge: Unsere Herbergsmutter hatte unserer Sechs-Frauen-und-vier-Männer-Truppe ein doppelstöckiges Matratzenlager zugewiesen, dazu gesellten sich noch ein Vater mit Tochter aus Kalifornien. Wenn zwölf Menschen erschöpft und auf engstem Raum ihre Rucksäcke auspacken, kann es recht kuschelig werden. Doch das erstklassige Käsefondue am Abend und die edlen Tropfen vom roten Gamay und weißen Fendant lassen unser Stimmungsbarometer schnell wieder auf stabile Höhenlagen ansteigen.

Zudem ist unserem „Zimmerscout“ in der Gruppe auch an diesem Abend wieder ein Coup gelungen. Und das kam so: In größeren Hütten mit Matratzenlagern sind die Belegungen oftmals ungleich verteilt. Da lohnt es sich zu schauen, wo noch ein bisschen mehr Platz zum Schlafen ist. Im großen alten Haus der Auberge hat unser Scout tatsächlich noch ein freies Bettenlager entdeckt – und damit konnten wir unsere Frauenmannschaft von der männlichen Schnarch-Fraktion befreien! 

Rund um den Mont Blanc: bis zu 170 km durch Frankreich, Italien und die Schweiz mit etlichen Varianten. Die MTB Seite  www.montourdumonblanc.com bietet gute Hinweise zu Unterkünften und Wanderrouten.

Auf unserer Tour gegen den Uhrzeigersinn übernachten wir drei Mal in Frankreich und Italien und zwei Mal in der Schweiz. Jede Hütte hat ihre landestypischen Eigenarten. Italienischer Zwieback zum Frühstück führt schonmal zu leichtem Naserümpfen, das Lunchpaket ist dafür umso größer. Die Abendessen verdienen rundum sehr gute Noten, deutlich bessere als das Knarr-Konzert der hölzernen Doppelstockbetten. Am Morgen wundert man sich, dass es wider Erwarten doch gelungen ist, bis 5 Uhr zu schlafen. In den Sanitäranlagen kann es schonmal eng werden. „Du musst halt nachts gehen oder bis zur nächsten Hütte aushalten“, rät unser abgebrühter Bergführer.

Wander*innen aus aller Welt
Mehr als vierzig Unterkünfte liegen auf der Strecke, dazu etliche Campingplätze. Gut 1.500 bis 2.000 Wander*innen dürften sich in der Hochsaison täglich auf den Weg machen,  aufs Jahr gerechnet sicherlich zehn- bis zwanzigtausend. In der Hochsaison sind die Hütten voll,  aber auf den Wegen gibt es kein störendes Gedränge.

Wir treffen gleichwohl immer wieder auf die nettesten und verrücktesten Leute.  Da ist die britische Familie mit Vater Max, dem Bodybuilder. Auf seinem Herkulesrücken ist der Familienstammbaum eintätowiert. Da kann man nachlesen, dass er mit Frau Monica und seinen drei Kindern unterwegs ist. Der Ire, nennen wir in Ian, packt gern andrer Leute Sonnenhüte ein, entpuppt sich aber sonst als feiner Kerl. Eine französische Mutter wandert mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Der lässt seine Drohne über die Gletscher fliegen. Zwei Skandinavierinnen sind mit Zelt unterwegs. Sie schleppen 15 kg Gepäck mit sich herum, deshalb treffen wir sie bei jeder Pause wieder.  Eine Inderin aus Bangalore, die als IT-Fachfrau in Hamburg arbeitet, hat sich als Solowanderin aufgemacht. Sie meint, dass die TMB-Tour in Indien bekannter als in Deutschland sei. Und da sind auch noch die Wandergruppen aus Japan, Südkorea und China. Der Mont Blanc ist auch in Asien ein Begriff.

Wir glauben, dass ohne Handy-Ladestationen nichts mehr geht!

Wir begegnen Trailrunnern mit den dicken Sohlen unter den Laufschuhen. Sie wollen die Mont Blanc Runde beim bevorstehenden Ultramarathon in drei Tagen schaffen. Und hin und wieder wundern wir uns über Mountainbiker, die ihre Drahtesel über das unwegsame Gelände schieben.

Der Mont Blanc ist ein weltweiter Publikumsmagnet. Im ehrwürdigen französischen Bergdorf Chamonix, dem Start- und Zielort unserer Tour,  ist Englisch längst zur Umgangssprache geworden. 

Bedächtiger Aufstieg von Chapieux zum Col de Seigne

Bergsteigerlegenden und schwindende Gletscher
Die Spitze des Mont Blanc sehen wir nur selten, denn immer wieder schieben sich vorgelagerte Gipfel in die Blickachse.  Die beste Zeit zum Schauen ist frühmorgens und abends, tagsüber ziehen Wolkenschleier auf. Doch der erfahrene Bergführer weiß auch diese Befindlichkeit der weißen Diva zu deuten: „Trägt sie einen Hut, bleibt das Wetter gut!“

Die Besteigung des Mont Blanc und seiner Nebenspitzen (Aiguilles) ist Stoff für reichlich Bergsteigerlegenden. Natürlich ist das nichts für Weicheier, lässt uns unser Bergführer unmissverständlich wissen. Er selbst, so erzählt er,  hat jedoch etliche Gipfel erklommen: Die Aiguilles zum „akklimatisieren“,  den besonders spitzen Dent du Géant (Zahn des Riesen), weil es eine „lustige Kletterei“ ist,  und als Höhepunkt der Aufstieg zur weißen Diva selbst. Auf den Karten zeigt mir unsere Wanderführerin (ja, wir werden abwechselnd von zwei Bergspezialist*innen geführt) die eng beieinander liegenden Höhenlinien auf den steilen Gletscherpassagen zum Gipfel. Das nötigt mir schon beim Hinschauen gehörigen Respekt ab. Und mit bloßem Auge erkenne ich auch aus der Ferne die enormen Gletscherspalten.  

Glaubt man den einschlägigen Hochtourenanbietern, dann gehört die Besteigung des höchsten Bergs Zentraleuropas nach wie vor auf die „Must-Do-Liste eines jeden Bergsteigers und Abenteurers“.  Doch dieses alpine Businessmodell beginnt zu kippen. Gewiss ist, dass mit dem Klimawandel auch das Bergsteigen gefährlicher wird.  Der Permafrost, der die Felsen wie Kit zusammenhält, löst sich allmählich auf. Bei Niederschlag im Sommer liegt die Schneefallgrenze inzwischen so hoch, dass sich die Gletscher mangels Neuschnee nicht mehr regenerieren und das bläulich schimmernde Eis direkt der Sonne ausgesetzt ist. Inzwischen häufen sich die Nachrichten über Gletscher- und Felsabbrüche,  Expert*innen warnen vor weiteren Extremereignissen.   

Noch birgt das Mont Blanc Gebiet ungeheure Gletschermassen. Das Mer de Glace (Eismeer), Frankreichs größter Gletscher, ist mehrere Hundert Meter dick. Doch die Schmelze ist auch hier nicht mehr aufzuhalten.

Gletscherschmelze am Südosthang des Mont Blanc Massivs

Genusswandern mit Aussicht
Unsere Wandergruppe ist unterdessen mit der Umrundung statt der Besteigung des Mont Blanc bestens bedient. Wir erfreuen uns am überaus abwechslungsreichen Panorama, an sprudelnden Bächen und blühenden Bergwiesen,  beobachten Wildbienen und Schmetterlinge und laufen mutig an grasenden Rinderbullenherden vorbei – dem Elektrozaun sei gedankt.  

Es sind ja oft die kleinen Zipperlein, die auf einer Bergtour die Stimmung heben oder kippen können: Wie begegne ich Rücken- und Schulterschmerzen? – Nun, der Rucksack sollte 8 bis 9 kg Gewicht, inkl. Tagesproviant und Wasser, nicht überschreiten. Rei in der Tube wiegt weniger als zu viel Wechselwäsche! Wie binde ich  meine Stiefel, damit die Blasen weniger schmerzen? – Einschlägige Videos auf YouTube zeigen es mir!  Wie bekomme ich meine angegriffene Verdauung in den Griff? – Gut, wenn die passende Arznei mit im Rucksack ist!  Wo kann ich mein Handy laden? –  Ein echter Engpass in den Berghütten! Ein Wirt macht doch tatsächlich den verwegenen Vorschlag: „Switch off your phone and enjoy the mountains!“ (Schalte dein Telefon aus und genieße die Bergwelt!).

Locker und entspannt gehen, sagt die Bergwanderführerin.

Gemeinsam geht es besser
Wir erleben eine überaus positive Gruppendynamik, denn ein gemeinsames Ziel eint auch Menschen, die sich zuvor nicht kannten und aus den verschiedensten Himmelsrichtungen kommen. Schnell gewinnen wir Vertrauen zueinander, ermutigen uns in Schwächephasen und beglückwünschen uns am Ziel. Wir tauschen Anekdoten und Erfahrungen aus, finden das bereichernd und vergessen darüber die Anstrengungen des Tages.

  Blütenvielfalt am Wegesrand
Adieu Mont Blanc

Nach 120 km Wegstrecke, Muskelkater in den Beinen und Blasen an den Füßen steige ich in Chamonix hoch zufrieden wieder in den Mont-Blanc-Express auf den Weg nach Hause ein. Es wird erneut ein Zehn-Stunden-Tag werden, diesmal im Sitzen. Der Regen schlägt an die Fenster, der Zug rattert durch die Bergtunnel zurück ins Tal.

Au revoir, arrividerci, adieu, Du weiße Diva, Du hast es gut mit uns gemeint.

Die Runde um den Montblanc im Detail (entgegen dem Uhrzeigersinn) :
Tag 1: Chamonix – Les Contamines Montjoie (Busfahrt), Notre Dame de la Gorge (1210m) – Col du Bon-homme – Col de la Croix du Bonhomme (2443m) – Chapieux, Auberge de la Nova (FRA, 1549m); 15,7 km
Tag 2: Chapieux – Col de Seigne (2516m) – Refugio Elisabetta (ITA, 2207m); 14,6 km
Tag 3: Rifugio Elisabetta – Col Chécrouit (1958m) – Courmayeur (1230m) – Rifugio Bertone (ITA, 1990m); 19,7 km
Tag 4: Rifugio Bertone – Testa Bernarda (2535m) – Rifugio Elena (ITA, 2061m); 18,6 km
Tag 5: Rifugio Elena – Col Ferret (2590m) – Ferret (1710m) – Champex-Lac (Busfahrt) – Relais d’ Arpette (CH, 1627m); 11,2 km
Tag 6:  Rel. d‘ Arpette – Fenêtre d’ Arpette (2665m) – Trient, Auberge du Mont Blanc (CH, 1292m); 13,4 km
Tag 7: Trient – Col de Balme (2204m) – Frasserands, Gite le Moulin (FRA, 1343m); 13 km
Tag 8: Frasserands – Chamonix/ Les Moussous, La Chaumière Mountain Lodge (FRA, 1035m); 12 km

Quellen:  DAV Summit Club (Tour du Montblanc: Rund um den höchsten Berg der Alpen (dav-summit-club.de);  Dank an Sieglinde Wirz für ihre Tourdaten; eigene Aufzeichnungen; Höhenangaben variieren je nach Quelle.

Blüten, Sand und Störche – Eine Wanderung an Portugals Atlantikküste  

Unterwegs auf dem Fischerpfad

Rund 100 Treppenstufen sind es vom Klippenrand hinunter bis ans Wasser. Es ist Ebbe, der breite Sandstrand der Praia do Brejo Largo, hier und da durchbrochen durch Felsblöcke,  reicht bis fast an den Horizont. Schnell streifen wir die staubigen Wanderschuhe ab, laufen barfuß an der Brandung entlang und klettern in die nächste Bucht. Welch ein Glücksgefühl! Das Meerwasser reinigt den verschwitzten Körper, die Frühlingssonne wärmt die Glieder auf, die Atlantikbrise kühlt die Stirn. Ein Möwenschwarm lässt sich von unserem Freudentaumel nicht beeindrucken, kennt das alles schon länger, flattert nur kurz auf und setzt dann seine Muschelsuche fort.

Dünen, Klippen, Meer
Wir sind im südportugiesischen Alentejo auf unserer zweiten Etappe des „Fischerpfads“ – dem vielleicht schönsten Teil der „Rota Vicentina“ – unterwegs. Los ging es in Porto Covo, zwei Stunden Busfahrt südlich von Lissabon gelegen. Ziel unserer viertägigen Wanderung ist Odeceixe, ein Ort nahe der Mündung des Ceixe. Das Flüsschen bildet die Grenze zwischen dem Alentejo und der Algarve, Portugals bekanntester Urlaubsregion. Das Fernwanderwegenetz der „Rota Vicentina“ darf hingegen noch als Geheimtipp gehandelt werden, denn der Ausbau begann erst vor rund 10 Jahren. Bürgervereine in der Küstenregion des Alentejo haben sich vorgenommen, sanften Tourismus zu fördern. Das Projekt wird von der Europäischen Union großzügig unterstützt und von den Wandertouristen dankbar angenommen. So verläuft der Fischerpfad überwiegend durch den geschützten „Parque Natural do Sudoeste Alentejano e Costa Vicentina“. Rund 75 km mäandert der Weg durch Dünen, an Klippen hoch über dem Meer entlang, am Strand nahe der Brandung, durch Küstenwälder und bisweilen auch durch stacheliges Macchia-Gestrüpp. Gut die Hälfte der Strecke verläuft auf sandigen Wegen. Das ist mitunter mühsam. Doch wer Erholung ohne große Hotelanlagen, Fastfoodketten und Blechkarawanen sucht und zudem ein bisschen Anstrengung nicht scheut, ist hier richtig.

Jede Bucht ist anders

Das Wandern entlang der Küste wird zum Fest der Sinne:  Ständig haben wir das Rauschen der Brandung im Ohr, die salzhaltige Luft ist Labsal für die Nase, und die Wildblüten im Frühling sind eine wahre Augenweide. Die kleinen Küstendörfer mit ihren weiß getünchten Häusern, in denen wir am Abend Quartier finden, haben Charme, bieten hervorragende regionale Küche und werden fangfrisch von den örtlichen Fischern beliefert. 

Wildblumen soweit das Auge reicht

Rote Nelken für die Freiheit
Heute ist ein besonderer Tag, denn die Portugiesen feiern den 49. Geburtstag ihrer Nelkenrevolution. Der Aufstand begann just in unserer Wanderregion, im Alentejo, wo mittellose Landarbeiter gegen Großgrundbesitzer aufbegehrten. Am 25. April 1974 stürzten Offiziere den langjährigen Diktatur Antonio de Oliveira Salazar. Als die Putschisten Lissabon erreichten, steckten ihnen Frauen rote Nelken in die Gewehrläufe. Das war ansteckend, denn noch im gleichen Jahr wurde Griechenland (wieder) demokratisch, Spanien folgte drei Jahre später.

Was bedeutet den Menschen dieser Feiertag? Die Lissaboner Zeitung „Diário de Notícias“ schreibt, dass die Demokratie in Portugal auch nach fast 50 Jahren kein Selbstläufer sei.  Die Freiheit, so der Autor, ist ein Paradox, denn sie wird von denen bedroht, die sich die Freiheit nehmen, um sie zu bekämpfen. Somit muss sie beständig verteidigt werden.  

Auf der Suche nach einem besseren Leben
Als wir den Weiler Almograve erreichen, treffen wir auf auffallend viele junge Männer mit südasiatischen Gesichtszügen. Einige mit Turban, sie gehören offenbar der Glaubensgemeinschaft der Sikh an. Anders als wir tragen die Männer weder Rucksäcke, noch verschwitzte Wanderklamotten. Sie sitzen alleine oder in Gruppen zusammen, denn der 25. April ist auch für sie ein arbeitsfreier Tag. Viele telefonieren.

Wer sind diese Menschen, die hier offenkundig nicht zuhause sind?  Im Café „Sabores e Mar“, in dem sich am Nachmittag die Wanderer versammeln, bringt uns eine junge Frau, die nicht sehr portugiesisch aussieht, den Kaffee. Sie erzählt, dass sie gerade erst vor drei Wochen aus  Kathmandu eingetroffen sei. Der Kellner im „Mar Azul“, ein  nepalesisches Restaurant,  kommt aus dem südnepalesischem Chandrapur und hat dagegen schon vor acht Jahren im Restaurant seines Onkels angeheuert. Uns fällt auf, dass sich in den Dörfern auf unserem Weg etliche asiatische „Minimarkets“ angesiedelt haben. Hier stocken wir hier unsere Wanderverpflegung auf, doch das Warenangebot richtet sich eindeutig auch an eine asiatische Klientel. Was also machen die vielen Asiaten in dieser Gegend?

Arbeitsmigranten in Almograve

Der Kellner im Fischrestaurant „O Lavrador“ erzählt, dass die Männer in den „estufas“, den Gewächshäusern der Gegend, arbeiten.  Ein Blick auf Google Maps bestätigt, dass unweit vom Ort großflächig Tomaten, Obst und Waldbeeren angebaut werden. Nach ein paar weiteren Klicks im Internet wird klar: In Portugals Landwirtschaft arbeiten rund 50.000 Nepalesen und 200.000 Inder, viele davon im Alentejo, wo einheimische Arbeitskräfte fehlen. Hier entsteht eine neue Generation südasiatischer Landarbeiter, denn Portugals Früchteexport nach Nordeuropa – vor allem nach Deutschland – boomt. Der Strom der Zuwanderer in den Alentejo wird also weiter anschwellen. Begünstigt wird dies durch eine liberale portugiesische Einwanderungspolitik, aber auch durch Vermittler, die an den Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben mitverdienen. Der freundliche Ram hat seinen „Minimarket“ noch am späten Abend geöffnet. Ich frage den Nepalesen wie es ihm in Portugal gefällt. Er lächelt höflich und sagt, dass er mit seinen beiden Läden ein Auskommen habe. Risiken und Chancen der Arbeitsmigration liegen auch hier im Alentejo eng beieinander. Und ich weiß nun, wem ich die leckeren Heidelbeeren in meinem morgendlichen Müsli zu verdanken habe.    

Rüstige Rentner und Frauengruppen
Die Wanderung auf dem Fischerpfad ist ein multikulturelles Erlebnis.  Denn am Tage auf den Wegen und am Abend in den Cafés und Restaurants hören wir viel Munteres auf Italienisch, Englisch, Spanisch und natürlich auch auf Deutsch. Denn auch im Alentejo sind wir Deutschen die Wanderweltmeister. Holländisch hört man weniger, erst wieder in der Nähe der Campingplätze. Es sind, so scheint es uns, viele nette Leute unterwegs, junge Menschen, rüstige Rentner aus Nordeuropa, na klar, darunter viele Frauengruppen und Solowanderinnen. Und dann begegnen wir immer wieder der lachenden „Zeltstange“ und – wir nennen ihn einfach mal so – „Charles“. Die fröhliche Italienerin lässt ihre lässig im Rucksack verstaute Zeltstange weit in den Himmel ragen und jener eigenwillige Brite mit Rauschebart ist mit Bügelfaltenhose und Businesshemd unterwegs.  

Praia da Amália

Wer ist Amália?
An unserem vierten Wandertag sind wir irgendwo zwischen Zambujera do Mar und Odeceixe unterwegs. Hier an den Klippen an einem der schönsten Küstenabschnitte unserer Tour steht das Gästehaus Amália Rodrigues sowie ein Hinweisschild zur „Praia da Amália“.  Das hätte ich fast übersehen – ein schweres Versäumnis! Denn wir stehen vor dem Refugium der Sängerin Amália Rodrigues, für die Portugiesen die Ikone und Identifikationsfigur schlechthin. Amália – sie wird von Ihren Anhängern nur mit dem Vornamen genannt – wuchs in den 1920er und 1930er Jahren in ärmlichsten Verhältnissen in Lissabon auf und entwickelte sich mit ihrer einzigartigen Stimme zur bedeutendsten Fadosängerin des Landes. Sie wurde zum Vorbild für Generationen nachfolgender Künstlerinnen, die das Genre bis heute erfolgreich weiter entwickeln. Mariza, Ana Moura oder Cristina Branco, um nur einige zu nennen, nehmen mit ihren schönen melancholischen Stimmen die Menschen mit auf die Suche nach den Geheimnissen der menschlichen Seele.

Wir machen uns dagegen auf die Suche nach Amálias Strand. Durch dschungelartiges Gelände führt ein steiler Weg eine Schlucht hinab. Unten angekommen, erwartet uns eine wunderschöne und fast menschenleere Bucht. Wir spazieren über den Strand, tauchen ein in die eiskalten Wellen und spülen das Salz unter einem kleinen Wasserfall ab. Dann schnüren wir wieder die Wanderschuhe, erklimmen  die Klippen und laufen hoch oben über der Brandung weiter Richtung Süden.  Bis zum Leuchtturm des Cabo San Vicente, dem südwestlichsten Punkt Europas, sind es nur noch 50 Kilometer.

Störche nisten auf Klippen

Ciconia cinonia
„Den gibt‘s auch in Hessen“, wird uns später unsere neidische Nachbarin belehren. Die Rede ist vom großen Weißstorch, auch Klapperstorch genannt. Er nistet für gewöhnlich auf Schornsteinen oder Masten, seit ein paar Jahren auch wieder in deutschen Gefilden. An Portugals Atlantikküste aber bauen Störche ihre großen Nester auf Felsspitzen hoch über der Brandung, und das ist, wie Ornithologen versichern, einzigartig. Hier kann die Brut ungefährdet wachsen. Von Atlantikstürmen oder neugierigen Wander:innen lassen sich die großen Vögel nicht beeindrucken.

Ungebändigte Natur, Wind und Meeresrauschen – und die Freundlichkeit der Menschen, das sind die Highlights unserer Tour auf dem Fischerpfad. Es braucht nicht viel um zu begeistern. Die Macher der Rota Vicentina haben ihren Weg gefunden.

4-Tage-Wanderung von Porto Covo nach Odeceixe; Kartenquelle: Komoot

Informationen zu Wanderrouten, Unterkünften und Verpflegung finden sich u.a. hier: Rota Vicentina SW Portugal  sowie im Rother Wanderführer, Rota Vicentina, 2021

Einen Einstieg in die Welt der Fadomusik bietet die Dokumentation:  WDR KLASSIK: Wir alle haben Amália im Blut: Amália Rodrigues und die Fado-Szene | ARD Mediathek , 2022

Eine Reportage über asiatische Arbeitsmigranten in Portugal findet bei der Deutschen Welle: Arbeitsmigranten – asiatische Billigpflücker in Portugal | Global 3000 – Das Globalisierungsmagazin | DW | 25.04.2022

Budapest: Zurück zu alter Größe?

Ungarns museales Parlamentsgebäude

Laufrunde von Platz zu Platz in der Innenstadt von Pest: Kamermayer Karoly Szervita – Vörösmarty – Vigadó – Széchenyi István – Holocaust Memorial am Donauufer – Kossuth Lajos (Parlamentsgebäude) – Mahnmal des Miteinanders – Szabadság (Freiheitsplatz) – Szent István (St. Stephans Basilika) – Ungarische Staatsoper – Székely Mihály (Jüdisches Viertel) – Synagoge Kazinczy Straße – Große Synagoge Dohány Straße – Astoria – Semmelweis – Kamermayer; 6,6 km

Joggingroute durch Pest – (Karte ©Google Maps)

Es ist kein Zufall, dass ich beim Frühstück im gemütlichen Gerloczy Café im V. Budapester Distrikt endlich Karoly Kamermayer höchstpersönlich treffe.  Denn zuvor bin ich ihm auf meinem Morgenlauf durch Budapest schon mehrmals auf die Spur gekommen. Kamermayer wurde 1873 zum ersten Bürgermeister Budapests gewählt und blieb 23 Jahre lang im Amt. Die Stadt entstand aus der Vereinigung der westlich und östlich der Donau gelegenen Ortschaften Buda, Obuda und Pest. Kamermayer galt als integer und weitsichtig und legte die Grundlagen für eine moderne Stadtentwicklung. Er sorgte für Trinkwasser und Abwasserentsorgung, ließ Krankenhäuser und Markthallen errichten, setzte die erste Metro auf dem europäischen Festland auf die Schiene und bereicherte das kulturelle Leben durch den Bau der ungarischen Staatsoper. Unter seiner Amtszeit wurde Budapest zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren Europas. Seine Statue steht wenige Meter vor meinem Frühstückstisch.

Budapests Visionär

Prächtige Theaterkulisse
Doch nun zu meinem Lauf. Wer frühmorgens durch eine Großstadt joggt, trifft auf die üblichen Verdächtigen: Leute von der Stadtreinigung, Menschen, die zur Frühschicht eilen und ein paar ähnlich verrückte Sportler. In Budapest treffe ich an diesem Frühsommermorgen durch den Stadtteil Pest (ungarisch: Pescht) auf bemerkenswert viele Gassi-Geherinnen. Denn in Ungarn, dem Land der Hundefans, wohnt fast in jedem Haushalt ein Vierbeiner.  Aber Budapest hat natürlich mehr zu bieten.

Wie eine Theaterkulisse breitet sich die Stadt vor mir aus. Der Vorhang ist aufgezogen, die Straßen sind noch fast leer. Auf der Bühne sehe ich großzügige Plätze, barocke Kirchen, kunstvoll dekorierte Paläste aus der Blütezeit der K.u.k.-Monarchie, schöne Jugendstilfassaden neben ultraschicken Glasbauten aus der EU-finanzierten Moderne. Und immer wieder etliche mit Holzbrettern vernagelte Fenster – bröckelnde Schönheiten aus vergangenen Zeiten.

Early Birds vor der St. Stephans Basilika

Über die Innenstadt laufe ich zum Donauufer und stolpere auf dem engen Uferweg beinahe über die Angelleinen der Fischer. Fast lautlos gleitet eines dieser unendlich langen Flusskreuzfahrtschiffe vorbei.  Auf der anderen Seite des Flusses glänzt das historische Burgviertel in der Morgensonne. Wiener Tor, Matthiaskirche, Königsschloss – alles repräsentative Bauten aus der K.u.k.-Zeit. Aus dem Burgviertel ragen auffallend viele Baukräne hervor. Denn seit Jahren wird hier saniert. Etliche Gebäude entstehen ganz neu im alten Glanz.  Es wird viel Aufwand in die Restauration gesteckt.

Dann komme ich an die Stelle am Donauufer, wo die gusseisernen Schuhe stehen. Tags zuvor hatte ich Schulkinder beobachtet, wie sie versuchten mit ihren Füßen hineinzuschlüpfen. Dieses nette Bild entpuppt sich als Erinnerung an grausame Zeiten. Es sind Schuhe von Kindern, Frauen und Männern, die da am Donauufer stehen. Sie stehen für die Schuhe von Tausenden von Juden, die die Nazis 1944 zum Donauufer trieben und erschossen. Doch vorher mussten alle ihre Schuhe ausziehen.  

Die Schuhe am Donauufer

Erinnerungspolitik
An dieser Stelle muss ich vorgreifen und über ein Holocaust-Denkmal sprechen, was ich auf meinem Lauf erst später erreichen werde. Denn dieses andere Denkmal ist höchst umstritten. Auf dem Siegesplatz mitten im Zentrum Budapests wurde zum 70. Jahrestag der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 in einer Nacht-und-Nebel Aktion das „Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“ errichtet. Tags zuvor hatte der ungarische Touristenführer Ódor uns erklärt, was wir dort sehen sollen: In zentraler Position steht der Erzengel Gabriel mit dem Reichsapfel in der Hand. Gabriel symbolisiert das unschuldige Ungarn. Auf ihn herab stößt ein Höllenvogel mit brutalem Flügelschlag. Das ist der deutsche Reichsadler. Die Botschaft: Ungarn hat mit dem Einmarsch der Wehrmacht seine Souveränität verloren. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán bezeichnete die Skulptur als „makelloses Kunstwerk“. In Ungarn und auch international gab es dagegen Proteste. Der Historiker György Dalos ist der Auffassung, dass mit dem Mahnmal versucht wird, die Geschichte umzuschreiben. [1]  Kritiker des Denkmals leugnen keineswegs die Kriegsverbrechen der Deutschen in Ungarn, doch die 500.000 ungarischen Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, wurden unter dem damaligen Horthy-Regime auch mit tatkräftiger Hilfe der ungarischen Behörden und unter Duldung oder gar Mitwirkung breiter Bevölkerungsschichten vor Ort vertrieben und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Aus Protest vor der Leugnung der ungarischen Kollaboration haben private Initiatoren vor dem offiziellen Denkmal authentische Gedenkstücke ermordeter Juden ausgestellt. Wir sehen Briefe und Fotografien, Koffer und vereinzelte Kleidungsstücke. Zwischen diesem und jenem Denkmal rauscht auf einer engen Durchgangsstraße alle paar Sekunden ein Auto durch – ein verstörender Gesamteindruck.


[1] György Dalos, Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns. München 2022

Auf dem Siegesplatz: Erinnerungsstücke ermordeter Juden vor dem
„Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung“

Das museale Parlament
Auf dem Weg zum Siegesplatz bin ich zuvor um das riesige Parlamentsgebäude am Donauufer herumgelaufen. Das dauert eine Weile, denn das Hohe Haus ist so breit wie die Länge von zweieinhalb Fußballfeldern. Die Vertreter des Volkes agieren in einem wahrhaft prächtigen Bau, der im Stil und aufgrund seiner Lage am Fluss an das britische Westminster erinnert. Die Parkanlagen rund um das Gebäude sind wunderbar gepflegt und werden von Männern in olivgrünen Uniformen bewacht. Als ich frohgemut an ihnen vorbeilaufe, grüßen sie freundlich zurück. Ich erinnere mich, dass der Touristenführer Ódor erklärt hatte, dass das Gebäude ursprünglich für ein Großungarn in den Grenzen vor 1920 gebaut worden war. Denn nach verlorenem Erstem Weltkrieg und mit dem Vertrag von Trianon musste Ungarn rund zwei Drittel seiner Gebiete vor allem an Rumänien, Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei abtreten. Über 100 Jahre später scheint das manchem nationalistisch gesinnten Politiker (wieder) zu schmerzen. So ist es kein Zufall, dass in der zentralen Sichtachse zum Parlamentsgebäude, in der Alkotmány Straße, Ministerpräsident Orbán erst vor zwei Jahren das „Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ einweihte. In der hundert Meter langen Steinrampe sind die Namen aller Ortschaften und Städte des einstigen Königreichs Ungarn in den Grenzen von 1913 eingemeißelt. Obwohl dieses Denkmal den gegenwärtigen Machthabern so wichtig ist, bin ich an der Rampe zunächst fast achtlos vorbeigelaufen, weil ich sie für die Einfahrt zu einer Tiefgarage hielt.  Erst beim näheren Hinsehen entdecke ich die über 12.000 Dorf- und Städtenamen.

„Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ 

Vom Ende der Rampe blicke ich zurück auf das Parlament und frage mich, wie es dort eigentlich im Innern zugeht. Nach meinem Lauf schaue ich mir deshalb die Ergebnisse der Wahlen vom April 2022 an.  Orbáns Fidesz-Partei, das steht für „Ungarischer Bürgerbund“, hat wiederum ihre Zwei-Drittel-Mehrheit behauptet, nun schon zum dritten Mal seit 2010.  Wie kriegt Orbán das immer wieder hin? Nun, er ist ein charismatischer Populist. Da kann ihm kaum einer das Wasser reichen. Er setzt auf die Stimmen in der Provinz. Nur in der Hauptstadt hat die Opposition die Nase vorn. Die öffentlichen Medien hat Orbán monopolisiert und die privaten Nachrichtenorgane unter die Kontrolle seiner politischen Freunde gebracht. Von Putin bekommt er für seine russlandfreundliche Politik billiges Gas und Erdöl und hält so die Energiepreise für die Bevölkerung niedrig. Der öffentliche Nahverkehr ist für Menschen ab 65 kostenlos. So bekommt er die Rentner:innen auf seine Seite.  

Ich will es gleichwohl noch genauer wissen und suche eine Tankstelle. Ende Mai 2022 kostete der Liter Superbenzin an Tankstellen des teilstaatlichen MOL-Konzerns umgerechnet rd. 1,25 Euro – da hatten die Benzinpreise in Deutschland schon die 2 Euro-Marke überschritten.  Und trotzdem macht MOL mit seinem Gas- und Ölgeschäft immer noch satte Gewinne, weil es den Rohstoff zu sehr guten Konditionen aus Russland bezieht. Die Dividenden, 2021 laut Geschäftsbericht immerhin 610 Mio. Euro, werden an Fidesz-treue Bildungsinstitutionen ausgeschüttet. Diese wiederum fördern Fidesz-treue Anhänger, wie die New York Times berichtet.  Aus Brüssel bezieht Orbán trotz wiederkehrender Korruptionsvorwürfe weitere Subventionen, mit denen er seine Klientel bedient. So läuft das System Orbán wie geschmiert. Weil im EU-Rat das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, hat auch dort Orbáns Stimme Gewicht. Im Streit um das EU-Ölembargo gegen Russland gelang es ihm fast nach Belieben Ausnahmeregelungen auszuhandeln.

Zurück ins Parlament. Seit Fidesz über die Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, finden keine wirklichen parlamentarischen Auseinandersetzungen mehr statt. György Dalos berichtet, wie sich die Fidesz-Mehrheit mit allerlei Verfahrenstricks und dem gezielten Einsatz des Rechnungshofes die Opposition vom Leibe hält und die Abgeordneten nur noch zu wichtigen Abstimmungen im Hohen Haus erscheinen.  Es scheint, als wäre das Parlament nun auch im Innern zu dem geworden, wie es von außen aussieht: Das prächtige Wahrzeichen einer erstarrten Demokratie.  

Zwei ungarische Helden: Szent István und Ferenc Puskás
 

Die Helden der Basilika
Kommen wir wieder zurück zum Freiheitsplatz, denn von dort ist es nur noch ein kurzer Lauf bis zur Stephans-Basilika. Besuchern werden gern zwei Geschichten erzählt. Die eine sagt, dass in der Kirche ein Stück Handknochen des Heiligen Stephan aufbewahrt wird.  Der Heilige Stephan, ungarisch: Szent István, wird als Staatsgründer Ungarns verehrt, weil er im 11. Jahrhundert erster König Ungarns war. Die zweite Reliquie ist der Leichnam des Ferenc Puskás. Dieser Name dürfte nicht allen Lesern geläufig sein. Puskás muss in einem Atemzug mit Namen wie Beckenbauer, Cruyff oder Di Stéfano genannt werden. Denn er gehörte in den 1950er und 1960er Jahren zu den besten Fußballspielern der Welt und war Kapitän der ungarischen „Goldenen Elf“. Am legendären 6:3 gegen England 1953 im Wembley-Stadion war er maßgeblich beteiligt. 1954 war er drauf und dran Weltmeister zu werden, wäre da nicht das „Wunder von Bern“ dazwischengekommen, als die deutsche Elf die Ungarn überraschend mit 3:2 besiegten. Puskás ruht in der Szent István-Basilika neben Heiligen und Königen und wird in Ungarn als Nationalheld verehrt. Als wäre das nicht Huldigung genug, ist auch das Budapester Fußballstadion nach ihm benannt. Im jüdischen Viertel von Pest entdecke ich zudem eine riesige Hauswand, auf der die Geschichte vom 6:3 verewigt ist.

Auf einer Hauswand verewigt: Ungarns legendäres 6:3 gegen England 1953 im Wembley Stadium
 

Kamermayers Vermächtnis
Von der St. Stephans Basilika laufe ich jetzt durch enge Gassen nach Osten und komme zu zwei bedeutenden Bauwerken, die die Handschrift von Bürgermeister Karoly Kamermayer tragen. Die ungarische Staatsoper ist ein so prächtiger Neo-Renaissancebau, dass der österreichische Kaiser Franz Joseph I. bei ihrer Einweihung sauer war, weil sie ihm noch prunkvoller als das Wiener Opernhaus erschien. Zur Oper gelangt man übrigens, der Weitsicht Kamermayers sei es gedankt, mit der historischen U-Bahnlinie M1.  Auch als Jogger lohnt sich ein Abstecher in die nur weniger Meter unter der Straße liegende Station „Opera“.

Station „Opera“ der ersten U-Bahn auf dem europäischen Festland

Die Station ist blitzsauber. Die Wände sind geschmackvoll in weiß-schwarzem Muster gekachelt, die Ein- und Ausgangstüren aus schönem Holz geschnitzt, die Stahlträger kunstvoll ausgestattet.  

Durch das jüdische Viertel
Das jüdische Viertel liegt südlich der Staatsoper. Die Hauptstädter nennen es auch gerne das Elisabeth-Quartier. Denn der schönen Sissi, der Gemahlin von Franz Josef I. und ab 1867 auch gekrönte Königin von Ungarn, wird eine große Liebe zu den Magyaren nachgesagt. Ihre jüngste Tochter kam in Buda zur Welt. Kein Touristenführer versäumt es zu erwähnen, dass sich die Wittelsbacherin mit Erfolg bemühte, ungarisch zu lernen. 

 Sozialwohnung im Jüdischen Viertel

Unter der Nazibesatzung unter der Führung von Adolf Eichmann wurde das Viertel zum Ghetto, mit dem Ziel, die jüdischen Anwohner in Vernichtungslager zu deportieren.  Kurz vor Kriegsende sah sich das Horthy Regime jedoch durch den wachsenden internationalen Druck und das aktive Engagement neutraler Staaten veranlasst, Deportationen aus dem Viertel zu stoppen.  Örtliche Diplomaten, wie der Schwede Raoul Wallenberg, gewährten vielen weiteren Personen Schutz. Heute bietet das Quartier ein gemischtes Bild. Die jüdische Gemeinde hat sich in drei verschiedene Glaubensrichtungen auseinanderentwickelt. Rund 60.000 bis 70.000 Juden leben in Budapest. Die Zahl der aktiv praktizierenden Juden ist deutlich kleiner. Es ist ein Trend zu beobachten, den man z.B. auch in Kazimierz, dem jüdischen Viertel von Krakau, beobachten kann. Das Elisabeth-Viertel wird zunehmend zum hippen Ausgehquartier, in die Abbruchhäuser nisten sich Kneipen ein, abends herrscht hier ein munteres Treiben. Doch etliche Einwohner wohnen in erbärmlichen Verhältnissen. Die Sozialwohnungen verfallen oder werden privaten Investoren überlassen. Die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf.

Die große Synagoge

Fast schon am Ende meines Rundlaufs stehe ich vor der Großen Synagoge in der Dohány Straße. Mir gefällt, wie die filigrane Ornamentik dem Backsteinbau eine besondere Würde verleiht.  Gleich neben der Synagoge steht das Geburtshaus von Theodor Herzl, dem großen Zionisten und Wegbereiter eines eigenständigen jüdischen Staats. Ich laufe weiter, überquere den belebten Astoria Platz und biege in die Semmelweis-Straße ein. Der Name würdigt den ungarischen Gynäkologen, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ursachen des Kindbettfiebers entdeckte und vielen Müttern fortan das Leben rettete. Ignaz Semmelweis war nur ein paar Jahre älter als Karoly Kamermayer. Beide gehörten einer Generation an, die ihrem Land und ihrer Stadt durch ihr visionäres Schaffen besonderen Glanz verliehen. Budapest zehrt noch heute davon.

„No matter what“: Das Matterhorn  

Der schönste Berg der Welt?

Es gibt nur wenige Berge auf der Welt, die so intensive Träume auslösen wie das Matterhorn. Und zu viele davon enden mit dem Tod. Das galt schon für den Briten Edward Whimper und seine eilig zusammengewürfelte Truppe, die am 14. Juli 1875 erstmals den Gipfel erreichten. Whimper war im Wettbewerb mit einer italienischen Seilschaft nur etwas schneller. Doch die Freude währte kurz, denn beim Abstieg stürzten vier seiner Kollegen tödlich ab. Die Diskussion um das gerissene Sicherungsseil befeuert den Mythos Matterhorn bis heute. Das einst bettelarme Dorf Zermatt am Fuße des Berges wurde weltberühmt und erlebte den größten Alpentourismusboom aller Zeiten. Das mehrdeutige Motto der Macher von heute lautet: „Zermatt. No matter what“.

Unzählige Alpinisten haben sich inzwischen in das Gipfelbuch eingetragen. Auch Theodore Roosevelt und Winston Churchill haben es  in ihren jungen Jahren bis nach ganz oben geschafft. So wird es im Zermatlantis, dem Matterhorn Museum in Zermatt, erzählt. Und Luis Trenker, der Held des Filmklassikers „Der Berg ruft“, war natürlich auch schon oben. Heikel ist indes der Abstieg. Acht bis zehn Tote pro Jahr gehen auf das Konto des „Toblerone-Berges“. Das Matterhorn gehört zu den tödlichsten Bergen der Welt. Die Rettungsteams von Air Zermatt sind rund um die Uhr beschäftigt.[1] 

Der lange Weg zum Paradies
Auch wir haben uns einen Traum erfüllt, allerdings bequemer und mit respektvollem Abstand. Vom hübschen Ortsteil Winkelmatten mit seinen alten Heuschobern ist es nur ein kurzer Fußmarsch zur Talstation des Matterhorn Glacier Paradise Express. Der viel versprechende Name verfehlt seine Wirkung nicht. Mit deutlich erhöhtem Adrenalinspiegel steigen wir ein – und bei der Station Furi viel zu früh wieder aus. Erst allmählich dämmert uns Greenhorns, dass der Weg ins Paradies über zahlreiche Zwischenstationen verläuft. Dass wir zum Schutz vor Corona im Lift auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch aufgefordert werden, die mascherina, also den Mund-Nasenschutz, zu tragen, bereichert unseren Wortschatz, denn Corona wird uns weiter begleiten. Mit einer ultramodernen Glasgondel in der Größe eines Lieferwagens schweben wir schließlich hinauf auf das 3883 Meter hohe Kleine Matterhorn. Wir schauen hinüber nach Italien in ein fantastisches Bergpanorama. Das Große Matterhorn uns gegenüber sehen wir nun von hinten – in der italienischen Version als Monte Cervino.

Schutz vor Ratten: Steinplatten unter Heuschobern in Winkelmatten

Wir sind in dieser Vorweihnachtszeit nicht ganz allein mit unserem Traum. Ein nettes Paar aus Zürich sitzt mit uns in der Gondel zum Paradies. Auch für sie ist es erstmals zum Greifen nah.  Und sicher auch für die peruanische Familie, die die 360 Grad Aussicht vom Gornergrat auf die umliegenden Viertausender genießt.

Qualität hat ihren Preis
Ahat ist dagegen schon ein alter Hase. Ihn treffen wir im Sessellift auf dem Weg zum Rothorn, ein weiteres Skigebiet mit Traumblick auf das Matterhorn.  Ahat ist schon zum dritten Mal in Zermatt, zieht es kennerhaft dem französischen Topgebiet Courchevell vor und residiert mit seiner Familie im besten Hotel am Platze. Ahat ist zehn Jahre alt und kommt aus Dubai.

Auch die sehr blonde Dame mit der goldenen Daunenjacke und der Elton-John-Sonnenbrille scheint sich hier am rechten Platz zu fühlen. Sie sitzt im Café des Fünf-Sterne-Riffelalp-Resort-2222-Meter  und bearbeitet ihr Smartphone. Der Russe am Nebentisch hält sein Gesicht in die Sonne und sagt dabei „da, da, da“ zu seinem смартфон. Ohne Smartphone geht es tatsächlich nicht, sonst wüsste die Welt nicht wo frau/man gerade ist. Vor lauter Glotzen wird unser Kaffee allmählich kalt. Russen besuchen Zermatt übrigens vor allem im Winter, Asiaten dagegen lieber im Sommer. Briten und Deutsche sind immer da. Das hat der umtriebige „Verein Zermatt Tourismus“ herausgefunden und richtet sein Marketing entsprechend aus. Die mehrsprachige Matterhorn App ist so programmiert, dass man fortlaufend Superangebote erhält und blitzschnell buchen kann (und soll).

Für jeden Geschmack ist etwas dabei

Wie sieht die Zukunft aus?
Das Skigebiet Zermatt lockt mit 52 Liften, 358 km Pistenlänge und Sommerski auf dem Gletscher des Klein Matterhorns. Das ist faszinierend, und macht doch nachdenklich. Laufend werden neue Seilbahnen gebaut und Pisten erschlossen. Zu klein gewordene Gondeln bleiben wie Flaschenstöpsel in den alten Seilbahnstationen stecken. Die modernen Aufstiegshilfen ins Hochgebirge ermöglichen einem breiten Publikum den Zugang in alpines Gelände. Wir haben etliche ausprobiert: große und kleine Gondelbahnen, Sessellifte, ober- und unterirdische Zahnradbahnen. Über die zahlreichen Querverbindungen vom Glacier Paradise über den Gornergrat bis hin zum Rothorngebiet gelangen wir fast mühelos von einer Bergregion zur nächsten – und wieder zurück. Bei Traumwetter ist das ganz fraglos ein großartiges Naturerlebnis.

Doch wo geht diese Entwicklung hin? Wie sehen Zermatt und seine Bergwelt in 5 oder 10 Jahren  aus? Gibt es ein Stoppschild für die Eroberung der Natur? Zweifellos werden die Umweltauflagen strenger, doch die Eingriffe des Menschen sind nicht mehr rückgängig zu machen.

Mit der Gornergratbahn zur 360-Grad-Aussicht

Von der gemütlichen Berghütte auf dem Gipfel des Rothorns schauen wir hinüber auf den Findelgletscher. Ein Blick wie aus dem Bilderbuch, der umgehend mit dem Smartphone festgehalten wird. Auf den zweiten Blick sieht man die haushohen Moränen an seinen Rändern. Sie deuten an, wie weit der Gletscher schon abgeschmolzen ist. Wissenschaftler sagen, dass er seit Beginn der Messungen Mitte des 19. Jahrhunderts um über 2,5 km zurückgegangen ist. [2]

Abschmelzender Findelgletscher unterhalb des Monte Rosa Massivs

Im Ort Zermatt gibt man sich umweltbewusst und schwört auf eine nachhaltige Entwicklung. Mit widerstreitenden Interessen hat man offenkundig gelernt zu leben. Auf der Habenseite steht, dass der Ort Zermatt schon immer autofrei war. Bis ans Ende des schmalen Hochtals kommt man nur auf der Schiene mit der Matterhorn – Gotthard – Bahn. Private PKWs müssen im 5 km vorgelagerten Täsch abgestellt werden. Im Ort geht es zu Fuß, mit der Kutsche, dem E-Bus oder E-Taxi weiter. 70% des Strombedarfs werden mit Wasserkraft gedeckt. Auf der anderen Seite weist die Zermatt Touristik für das Jahr 2020/21 1,7 Millionen Logiernächte aus. In Vor-Corona-Zeiten waren es sogar bis zu 2,3 Millionen.[3] Und das in einem kleinen Bergdorf mit nur 5500 ständigen Einwohnern. Die Abwägung zwischen Erleben und Erhalten bleibt da schwierig.  

Der Alpinist Reinhold Messner, bekannt dafür, dass er Klartext redet, hat sein Urteil längst gefällt. Mit dem Run auf das Matterhorn, so sagt er, begann das Ende der alpinen Unschuld. Er mag die so wunderschön geschwungene Pyramide am liebsten aus der Ferne. „Je näher man diesem Berg kommt, umso unattraktiver wird er. Das Matterhorn ist ein stinkender Schutthaufen. Es stinkt tatsächlich nach Urin.“[4] Das wird sich so schnell nicht ändern. Der Mythos Matterhorn bleibt bestehen, no matter what.


[1 ]Die Bergretter in Zermatt – Leben retten in den Alpen | Doku | SRF Dok – YouTube

[2] Findelgletscher – Wikipedia

[3] ZT_Jahresbericht-2020+Version+20.01.21_Web_kl.pdf

[4] Reinhold Messner über die Faszination des Matterhorns (tz.de)



Vom Glücksgefühl auf Radlerbrücken: Kopenhagen

Cirkelbroen und „Schwarzer Diamant“

Laufroute: Mit dem Rad aus dem Stadtteil Nørrebro bis zum Café la Pausa am nordöstlichen Ufer des Peblinge Sees, dann Laufstrecke am Seeufer, über Brücke Dronning Louises, Gothersgade, Kings Garden mit Schloss Rosenborg, Nyhavn, über die Brücke nach Christianshavn, Circle Bridge, Lille Langbro Brücke, DAC, Frederiksholm Kanal, Königspalast, Margstraede, Strøget, Købmagergade, Kultorvet, Nørreport, Orstedsparken, Seepavillon; 8,3 km.

8 km Rundlauf im Uhrzeigersinn

Als Brasilia 1960 zur neuen Hauptstadt des größten Landes Südamerikas gekürt wurde, war Jan Gehl begeistert von Oscar Niemeyers monumentaler Meisterleistung. Niemeyer und seine Mitstreiter hatten mitten im Urwald eine Stadt aus dem Boden gestampft, die den Menschen Wohlstand, Demokratie und Freiheit versprach – und ein eigenes Auto. Denn Fußwege und Bürgersteige sind in Brasilia bis heute Mangelware.[1]  Doch dann stellten sich der junge dänische Stadtplaner und seine Frau die Frage, was Architektur eigentlich mit den Menschen macht, die in ihr und um sie herum leben müssen. Sie gingen auf die Straßen und Plätze Kopenhagens und fragten bei den Einwohnern nach. So erzählt es jedenfalls Jan Gehl 2014 in einem Interview mit brandeins online.

Menschenfreundliche Stadtplanung
Kopenhagens Stadtverwaltung hatte mit dem sog. Fingerplan schon früh auf die Vernetzung von Stadtentwicklung mit Naherholungsgebieten gesetzt. Nun begleitete die Stadt die Forschungsarbeiten von Gehl und seiner Frau und setzte ihre Empfehlungen behutsam um. Der Erfolg ist offensichtlich: 1960 verpesteten Autoschlangen die Innenstadt Kopenhagens. Heute sind im Zentrum sämtliche Plätze autofrei. Parkplätze werden Zug um Zug reduziert, Radwege weiter ausgebaut. Mehr als ein Viertel aller Kopenhagener ist inzwischen mit dem Fahrrad unterwegs. Für viele Menschen ist das schlicht die schnellste und sicherste Form der Fortbewegung – und für die Stadtplaner ein wichtiger Schritt in Richtung Klimaneutralität. Doch die Entwicklung wirft auch Schatten, denn die Mietpreise sind hoch und ältere Menschen ziehen sich aufs Land zurück.

Wie fühlt sich das an, in einer den Menschen so zugewandten und lebensbejahenden Stadt unterwegs zu sein? Ich mache einen Selbstversuch, miete mir ein Fahrrad und radle und jogge im Juli 2021 kreuz und quer durch die Stadt.

An einem schönen Sommermorgen fahre ich vom kulturell sehr abwechslungsreichen Stadtteil Nørrebro mit Harry, meinem Mietfahrrad, bis zum Café la Pausa, ein wunderbar gelegener Ort am Rande eines Seengürtels, der mitten durch die Stadt verläuft.  Schon das Morgenlicht über dem See wirkt euphorisierend. Und das ist gut so, denn meine nun beginnende acht Kilometer lange Laufrunde durch die Stadt erfordert Durchhaltevermögen.

Morgenstimmung am Peblinge

An der Dronning Louises Brücke biege ich rechts ab in Richtung Innenstadt und laufe dann die Gothersgade knapp zwei Kilometer zum Nyhavn (Neuer Hafen) hinunter, mitten hinein in Kopenhagens touristische Puppenstube. Gothersgade bedeutet so viel wie „Straße der gotischen und wendischen Könige“, ein Titel, den das dänische Königshaus lange für sich beanspruchte. Königlich ist an der vielbefahrenen Straße mit etlichen Kneipen aber nur Schloss Rosenborg, das inmitten der Königlichen Gärten liegt. Ein Striplokal gegenüber wirbt damit, ausschließlich dänische Damen zu beschäftigen. Ist das womöglich eine Folge der restriktiven Einwanderungspolitik?

Nyhavn ist ein im 17. Jahrhundert angelegter Kanal, der Kopenhagens Hafen mit dem Neuen Königsmarkt, ein zentraler Platz in der Altstadt, verbindet. Der Kanal mit seinen pittoresken Häusern aus dem 18. und 19.Jahrhundert entfaltet vor allem am frühen Morgen seinen besonderen Charme.  Tagsüber und abends jedoch, wenn die Menschen um die zahllosen Kneipen und Souvenirläden flanieren, gibt es kaum ein Durchkommen.

Nyhavns Charme am Morgen

Wenn Wasser zum Spielplatz wird
Ich nähere mich jetzt der breiten Wasserstraße, die Kopenhagen mit der Ostsee verbindet. Die Einheimischen haben das blitzsaubere Wasser im Hafen längst als Schwimmbad und Vergnügungspark in ihren Alltag integriert. Die besucherfreundlichen Uferanlagen sind zugleich Strandbad, Treffpunkt, Liegewiese oder Partyfläche.

Gleich hinter dem Nyhavn trabe ich über die Inderhavnsbroen, eine überaus elegant geschnittene Fußgänger- und Radfahrerbrücke, hinüber nach Christianshavn. Jenseits der Brücke liegt eine beliebtes Street Food Areal.  Das alternative Nachbarviertel – die in den 1970er Jahren gegründete Freistadt Christiania – lasse ich allerdings links liegen, denn wer sich dort auf der Pusher Street mit Rauschmitteln benebeln will, macht das lieber später am Tag.

Ich hab’s mehr mit dänischer Architektur und blicke von der Inderhavens-Brücke auf das weit über das Wasser gebaute Schauspielhaus. Schräg gegenüber die Silhouette des Opernhauses  – zwei Stilikonen des modernen Kopenhagens.

Theater über Wasser

Der Ortsteil Christianshavn ist ebenfalls weitgehend Neubaugebiet. Von seiner Wasserfront hat man den besten Blick auf Kopenhagens Altstadt. Mein Favorit ist die Circle Bridge, eine Brückenkonstruktion für Fußgänger und Radler aus mehreren kreisrunden Plattformen. Sie liegt exakt gegenüber dem „Schwarzen Diamanten“, also der Dänischen Königlichen Bibliothek, eine überaus gelungene architektonische Symbiose von Alt und Neu. Die Lesesäle strahlen ein so einzigartiges Ambiente aus, dass bei den hier Studierenden – das ist empirisch belegt – unwillkürlich Glücksgefühle aufkommen.  

Design kann glücklich machen
Über die Lille Langebro, eine weitere elegant geschwungene Radbrücke über den Hafen, geht es wieder zurück in die Altstadt. Doch jenseits der Brücke laufe ich zunächst auf riesige, kreuz und quer aufeinander gestapelte anthrazitfarbene Legosteine zu – eine Verbeugung vor einem der weltgrößten Spielzeughersteller aus dem dänischen Billund. Im Innern des Gebäudes ist das Danish Architecture Center (DAC) untergebracht, in dem mit einer kleinen Prise Selbstbewusstsein die unbestreitbaren Errungenschaften dänischer Stadtplanung und Architektur gewürdigt werden. 

Das DAC werde ich später besuchen. Deshalb laufe ich weiter und nähere mich entlang des Frederiksholm Kanals erneut königlichen Gefilden. Vor dem monumentalen Schloss Christiansborg thront Christian IX. auf hohem Ross, König von Dänemark von 1863 bis 1906. Er heiratete übrigens seine deutsche Cousine, eine Prinzessin von Hessen, was allerdings nicht den deutsch-dänischen Krieg von 1864 um die Herzogtümer von Schleswig und Holstein verhindern konnte. Immerhin gelang es dem Paar, ihre sechs Kinder allesamt in diversen Königshäusern unterzubringen. Das brachte Friedrich IX. den Ehrentitel „Schwiegervater Europas“ ein. Aus Schloss Christiansborg selbst ist die Königsfamilie inzwischen in das nahegelegene Schloss Amalienborg umgezogen. Das hat besonders viele Schornsteine, weil die amtierende Königin Margrethe II., so wird gewitzelt, Kettenraucherin ist. In Christiansborg sind unterdessen die heutigen drei Gewalten der dänischen Demokratie eingezogen: Exekutive, Legislative und Judikative walten allesamt unter einem, wenn auch sehr großen Dach.    

Mein weiterer Laufweg führt mich durch die Margstraede, angeblich die älteste Straße der Stadt. Durch das Altstadtlabyrinth lande ich schließlich dort, wo die große Fußgängerstraße Strøget auf den Storchenbrunnen trifft. Hier könnte man sich wohlfühlen, wenn man nicht wüsste, dass die dänische Kriminalautorin Katrine Engberg in ihrem Thriller „Glasflügel“ ausgerechnet in diesem Brunnen eine Frauenleiche versenkt hat.

Entlang der menschenleeren, tagsüber aber sehr belebten Købmagergade mit ihrem weißgrau-melierten Fußbodenbelag und der gelben Schlangenlinie in der Mitte passiere ich den berühmten Runden Turm von Kopenhagen. Im 17. Jhd. wurde er als Sternwarte erbaut und mit einem Wendelaufgang versehen, der auch zu Pferde bestiegen werden kann.

Am Kultorvet-Platz plätschern am Morgen schon die Wasserspiele. Die Straßencafés haben geöffnet und drinnen schnaufen die Siebträgermaschinen. 

Wasserspiele am Kultorvet Platz

Nun ist es nicht mehr weit zu meinem Ausgangspunkt. Ich gönne mir noch einen Besuch auf dem Blumenmarkt am Bahnhof Nørreport sowie einen Abstecher in den idyllischen Orstedsparken, ein kleiner Stadtpark mit See, der am Morgen vor allem von älteren Hundeliebhabern frequentiert wird. Zurück amPeblinge Sø, hat sich schon eine Gruppe Jogger zu Dehnübungen am Seepavillon versammelt. Die Männer mit Tattoo machen es mit nacktem Oberkörper. Ein Bagger reinigt bedächtig den Seeboden. Auch für die Enten und Schwäne soll alles schön hyggelig sein.


[1] Vgl. in dieser Serie: Laufspass auf der Stadtautobahn: Brasilia trotzt der Krise, November 2016 (laufspass auf der Stadtautobahn | Suchergebnisse | viertelvorsieben

Abschied von gestern – ein Rundlauf am Rhein

Alles, was keiner mehr will, kommt weg.

Unterm Sitzpolster des Esszimmerstuhls hängen die Drahtfedern heraus.  Der Bezug ist abgewetzt und fleckig, die Ecken sind aufgeplatzt. Mit anderem Gerümpel steht er wie bestellt und nicht abgeholt im Wohnzimmer herum. 

Vorsichtig nehme ich Platz, schnüre mir die Laufschuhe und verlasse das fast leere Haus. Der Schlüssel kommt unter die Mülltonne. Es ist meine Abschiedsrunde durch den Rheinauenpark. 

Das Wetter ist an diesem frühen Samstagmorgen prächtig. Ich höre die Vögel richtig laut zwitschern und treffe auf der Straße ältere Menschen, die ihre gleichaltrigen Hunde ausführen. 

Rundlauf durch den Bonner Rheinauenpark: Donatusstraße, Kennedyallee, Kolumbusring, Europastraße, Martin-Luther-King-Straße, Auensee, von-Sandt-Ufer (Rheinuferweg), St. Evergislus Friedhof, Auerhofstraße, Leonardusstraße, Donatusstraße; 5,9 km

Der Parkplatz vor dem ALDI Supermarkt an der Kennedyallee ist praktisch leer. Auch der Behindertenparkplatz direkt vor dem Eingang sowie der Platz gegenüber sind frei. Der Pfahl mit dem Behindertenschild steht wieder aufrecht. Im Blumenbeet vor der Parkbucht sind keine Reifenspuren mehr erkennbar. Alles wirkt friedlich an diesem Morgen.

Nilgänse, Baseball und Solarenergie
 Im Wohnpark jenseits der Kennedyallee hoppeln die Karnickel auf den feuchten Rasenflächen herum. Sie scheinen hier Hausrecht zu haben und lassen sich von mir nicht aus der Ruhe bringen. Die schmucken, aber bescheidenen Häuserzeilen aus den 50er und 60er Jahren gehören zur amerikanischen Siedlung in Plittersdorf.  Davon zeugen auch die Straßennamen: Kennedyallee, Kolumbusring, Martin-Luther-King-Straße. Ich weiß nicht, wie viele Amerikaner hier heute noch leben. Das Gebäude des amerikanischen Clubs, wo sich die Familien sonntags zum Brunch trafen, ist schon seit langem geschlossen und wegen Einsturzgefahr abgeriegelt. Die Wände sind mit Graffitis besprüht.

Ein paar Erinnerungen an amerikanische Zeiten gibt es noch. Auf dem Platz, den jetzt eine wachsende Schar von Nilgänsen okkupiert, trainiert das Baseballteam der Bonn Capitals. Das Team entstand um die Wendezeit, gegründet von Freunden Amerikas. Inzwischen spielt es immerhin in der Champions League. Auf der Martin-Luther-King-Straße stoße ich auf einen bekannten Firmennamen, der nun auch schon Geschichte ist: Hinter hochgewachsenen Büschen liegt das ehemalige Hauptquartier der Solarworld AG. 2017 musste das einstige Bonner Vorzeigeunternehmen Insolvenz anmelden. Üppige Subventionen aus dem Energieeinspeisegesetz (EEG) hatten Solarworld einen privilegierten Platz an der Sonne verschafft. Dann aber holte die Konkurrenz aus China auf. 

Die Nilgänse im Rheinauenpark vermehren sich schneller als die Karnickel.

Inzwischen bin ich im Rheinauenpark angekommen. Auf dem Auensee breiten sich Seerosenblätter aus. 1979 wurde der Park für die Bundesgartenschau angelegt. Es wurden eigens Hügel aufgeschüttet, die die Silhouette des Siebengebirges auf der anderen Rheinseite widerspiegeln sollten. Damals sah das alles ziemlich künstlich und kahl aus. Gute vierzig Jahre später ist der Park wunderbar eingewachsen. Die großen Bäume verstecken auch eine mittendrin gelegene Kläranlage.

Schwäne und Raver
Nahe am Seeufer verläuft ein schöner Naturpfad, ideal zum Joggen. Es scheint so, als hätten sich heute Morgen die wenigen Parkbesucher die Flächen untereinander aufgeteilt. Hier die Nilgänse mit zahlreichem Nachwuchs. Dort die Schwanenkolonie. Die großen weißen Vögel demonstrieren Selbstbewusstsein. Jogger sollten besser Abstand halten.  

Und dann sind da noch jene Gäste, deren wummernde Geräusche ich schon lange höre, bevor ich die jugendlichen Raver am Seeufer campieren sehe. Zum Cool-Sein gehört der Geräuschpegel einfach dazu. Und auch Hochprozentiges. Am Grillplatz stehen ziemlich viele leere Flaschen herum.

Schwanengesang oder Morgengymnastik?

Oben auf einem der Hügel liegt das Parkrestaurant Rheinaue. Wie häufig dort die Eltern über die Jahre mit Kindern, Enkeln, Urenkeln, Pflegerinnen und Pflegern zu Gast waren, hat keiner mitgezählt. Als der Vater, weit in den Neunzigern, nicht mehr konnte, zückte die Mutter ihre Scheckkarte, raunte dem Sohn für alle hörbar die Geheimnummer zu und ließ die Rechnung von ihm begleichen. Der Mann zahlt. Für sie gehörte sich das so.

Hinter der Südbrücke ragt das alte Abgeordnetenhochhaus heraus. Es stammt aus der Zeit, als Deutschland noch aus Bonn regiert wurde. Inzwischen ist dort das UN-Klimasekretariat eingezogen. Bonn hat trotz des Umzugs der Hauptstadt dank des Bonn-Berlin-Gesetzes  einen beachtlichen Boom erlebt.  

Rheinwasser an Friedhofsmauern
Unterhalb der Südbrücke trabe ich zum Rhein hinunter und nehme den Uferweg nach Süden. Ein Kilometerstein für die Schifffahrt zeigt an, dass der Rhein hier schon 651 km lang ist. Ich laufe ein paar Kilometer stromaufwärts. Mit den langsameren Kähnen kann ich sogar Schritt halten. Das Wasser schwappt an die Böschung. Nach den vielen Regenfällen des Sommers führt der Fluss reichlich Wasser. Vor ein paar Jahren wuchsen auf dem austrocknenden Flussboden noch Tomatenpflanzen.  

„Der Rhein hat wenig Wasser!“ pflegte die Mutter zu sagen. Was zunächst noch Small talk war, erstarrte später zur wiederkehrenden Floskel, ganz unabhängig vom Wasserstand. Als der Sohn den Vater vor ein paar Jahren am Rhein spazieren fuhr, reichte das Wasser noch bis knapp an die Friedhofsmauern der St. Evergislus Kirche. Der Rollstuhl drohte im Morast stecken zu bleiben.  

Friedhofsmauern von St. Evergislus

„St. Evergislus hat den einzigen Friedhof in Bonn mit Unterbodenreinigung“ scherzte später der Gemeindepfarrer über das wiederkehrende Hochwasser am Rhein. Er war zur letzten Ölung des Vaters herbei geeilt. Ich erkundigte mich, ob auf dem Friedhof noch Platz wäre. Denn die Friedhofsverwaltung hatte dem Vater früher einmal geraten, doch bitte „ein halbes Jahr vorher“ nochmal nachzufragen. Das „halbe Jahr“ war jetzt plötzlich vorbei. 

Prunk am Abgrund
Nach dem Unfalltod der Mutter auf dem ALDI Parkplatz waltete ein neuer Gemeindepfarrer seines Amtes. Und fristgerecht gab es auch noch ein Sechswochenamt in der Bonner St. Remigius Kirche. Der Zufall wollte es, dass an diesem Gedenksonntag auch ein Kölner Weihbischof zur Visitation in Bonn weilte. Und so geriet die Familie unfreiwillig mitten hinein in das Kölner Bistumsdebakel.

Dem Bischof zu Ehren wurde in der Messe der ganze Prunk katholischer Hochämter aufgefahren. Selbst im Schlaf könnte ich die typischen Gerüche und Geräusche wieder erkennen: Weihrauch wird in alle Himmelsrichtungen geschwenkt, Räuchergefäß und Kette machen dabei dieses typisch scheppernde Geräusch. Von der Empore erschallen Orgel- und Trompetenklänge. Die zahlreichen Messdiener im rotweißen Gewande schreiten beim Einzug in die Kirche in Reih und Glied vor Pfarrer und Bischof einher. Ansonsten sieht man sie mal stehend, mal kniend neben dem Altar. Einer von ihnen aber muss höllisch aufpassen und an der richtigen Stelle klingeln, wenn in der Wandlung der Leib Christi präsentiert wird. Danach gilt es, die Klingel möglichst geräuschlos wieder abzustellen. Die ganze Gemeinde passt auf, dass das auch klappt. Eine Ordensschwester – tatsächlich tritt an dieser Stelle der Messe eine Frau auf – trägt in der Lesung einen Brief von Paulus an die Korinther (1 Kor 7, 32-35) vor. Paulus schreibt über das Verhältnis von Männern und Frauen und wie sie Gott, dem Herrn in rechter Weise dienen können. Der kurze Text geht – in Auszügen – so:

Brüder! (…) Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Das sage ich zu eurem Nutzen: nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr in rechter Weise und ungestört immer dem Herrn dienen könnt.

Der Weihbischoff predigt dazu mit ruhiger Bassstimme. Alles geschieht in Liebe und Dienerschaft zu Gott. Das überrascht aus seinem Munde nicht, aber hat er in Sachen Sexualität nicht ein zentrales Thema unerwähnt gelassen? Wenige Wochen später lässt der Bischoff sich im Zuge der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum Köln und dem darin gemachten Vorwurf des pflichtwidrigen Umgangs mit sexualisierter Gewalt von seinen Aufgaben freistellen. Was er sich vorzuwerfen hat, wird – weiß Gott! – wohl sein Geheimnis bleiben.

Auf dem Weg vom Rheinufer zum Elternhaus mache ich einen Umweg über den St. Evergislus Friedhof. Vor dem Grab der Eltern zu stehen, ist kein einfacher Moment.  Ich streiche den feinen Rindenmulch glatt, zupfe ein paar verwelkte Blüten aus dem Blumenschmuck. Zur Ablenkung denke ich an das nächste Rheinhochwasser. Es kommt so sicher wie das Amen in der Kirche und mit ihm dann auch die versprochene Unterbodenreinigung.

Ein Cappuccino hilft immer weiter
Das Haus ist angenehm kühl und still. An der großen Wohnzimmerwand hängt noch ein kleines Aquarell, das keiner mehr wollte. Alles, was keiner mehr wollte, hängt, steht oder liegt noch herum. Die Aufteilung der anderen Dinge folgte einer Dramaturgie, die nicht unbedingt weiter zu empfehlen ist. Ich hatte gedacht, Hinterbliebene wären gut beraten, zusammenzurücken. Tatsächlich scheinen die Fliehkräfte stärker zu sein.    

Die Frühstückcroissants aus dem ALDI und der Cappuccino to go aus dem Café nebenan sind richtig lecker. Das Auto habe ich beim Einkauf etwas abseits geparkt.

Mit Opa durch Hilversum

(Aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Rosenmarkt Hilversum

Rosen und Gemüse
Marieke liebt nicht nur Rosen, sondern ist auch eine begeisterte Gemüsepflanze. Fröhlich stopft sie blanchierten Broccoli und Blumenkohl, Möhrchen, Süßkartoffelchips oder Gurkenstückchen in ihr kleines Mäulchen. Kaum sichtbar blitzen die ersten Zähnchen aus dem Unterkiefer.  Also muss Marieke das ganze Gemüse zwischen ihren zahnlosen Kiefern zermalmen. Das ist mit ihren neun Monaten eine gehörige Anstrengung. Wenn ich jetzt schon mein drittes Gebiss hätte, könnte ich es herausnehmen und mit ihr um die Wette malmen. Aber Marieke geht es gar nicht um Geschwindigkeit, sondern um Genuss. Also bitte nicht ungeduldig werden, Opa!

Meine Enkelin hat in Wirklichkeit einen anderen wunderschönen Namen. Aber „Marieke“ gefällt mir als Pseudonym für eine echte halbe Niederländerin besonders gut.

Radio Hilversum
Bis also alles aufgegessen oder auf dem Boden verteilt ist und wir zum Spaziergang durch Hilversum aufbrechen, dauert es noch eine kleine Weile. Da kann ich noch schnell erzählen, was es mit Hilversum eigentlich auf sich hat. Dafür müssen wir uns für einen Moment in die 1960er und 1970er Jahre, also in die gute alte Zeit der Mittelwellensender, zurück versetzen. Die heißesten Songs der Beatles und Rolling Stones, die Rock n‘ Roll Nummern von Little Richard oder Chuck Berry hörten wir damals auf MW-Piratensendern. Radio Nordsee International, Radio Veronica oder Radio Caroline hießen die Sender, die auf kleinen Booten in internationalen Gewässern vor der Küste Hollands kreuzten.  Dabei rauschte und knisterte es immer ganz fürchterlich, aber das lag wohl am Wellengang und vermittelte das Gefühl von verbotenem Abenteuer.

Radio Hilversum war damals auch so ein europaweit bekannter Mittelsender, aber einen Tick bürgerlicher, denn Hilversum hatte einen festen Platz auf der Senderskala der großen alten Rundfunkgeräte. Hilversum klang für mich immer so ein bisschen wie Universum. Das lag überall und nirgendwo.  Deshalb habe ich lange nicht geahnt, dass Hilversum tatsächlich eine ganz reale Stadt mit heute 90.000 Einwohnern in der niederländischen Provinz Noord-Holland ist. 1985 wurden die Mittelwellensender europaweit abgeschaltet. Hilversum aber ist bis heute die Medien-Stadt der Niederlande und Sitz zahlreicher Fernseh- und Radiosender.

Hundeparadies im Gooiland

Die Entdeckung von Hilversum habe ich Marieke zu verdanken. Oder eigentlich ihren Eltern, die früh erkannt haben, dass Hilversum ein Ort mit hoher Lebensqualität ist, bequem zwischen den Arbeitsplätzen in Utrecht und Amsterdam liegt und noch dazu eine direkte Zugverbindung nach Berlin hat. Im Land mit der größten Bevölkerungsdichte Europas liegt Hilversum verblüffenderweise inmitten von weiten Heidelandschaften, dichten Wäldern, bunten Wiesen und blauen Seen.

Alles Käse
Jetzt sind wir endlich startklar für unseren Spaziergang durch die adrette Innenstadt von Hilversum. Wegen Corona wird auf den rotgepflasterten Wegen immer wieder an die Abstandsregeln erinnert: „Welkom, houdt 1,5 meter afstand“. Das verstehen selbst wir. Die Niederlande gelten derzeit als sog. Hochinzidenzgebiet. Und doch herrscht auf dem Samstagsmarkt so munteres Treiben, dass wir uns schnell von der entspannten Stimmung anstecken lassen. Manche Einheimische tragen zwar Alltags- oder gar OP-Masken. Doch mit unseren FFP 2-Masken fallen wir genauso aus dem Rahmen, wie wenn wir mit Fahrradhelm durch Holland radeln würden.

Holland Kaascentrum

Unseren ersten Halt machen wir beim Käse. Man braucht eigentlich nur in die Nähe der großen gelben Räder zu kommen, und schon setzt der Kaufrausch ein. Der Händler gibt uns die freundliche Empfehlung, dass nicht nur der holländische Käse Spitzenklasse, sondern auch der französische (!) Morbier hervorragend zum Raclette-Essen geeignet sei. 

Als nächstes besuchen wir den Tulpenstand. Meine blumenvernarrte Gattin kauft mit Wonne jene hochgezüchteten Gewächse, deren Blütenblätter so ausgefranst sind, als hätte sie jemand mit einer Nagelschere traktiert. Marieke ficht das alles nicht an. Halb schlafend, halb dämmernd hat sie ihre blaue Mütze tief über die Augen gezogen und nuckelt an ihrer blauen Wassertasse. Im ebenso blauen Wolloverall liegt sie als gelungene Gesamtkomposition im roten Kinderwagen.

Beim Fischstand gibt’s dann kein Halten mehr. Roher frischgefangener Hering an Zwiebelwürfeln mit sauren Gurkenscheiben, serviert auf silberglänzenden Pappschalen: Umsonst gelebt, wer hier nicht zugreift! Alle essen im Stehen, die nahegelegenen Bänke sind wegen Corona abgesperrt.  

Haring mit Fähnchen

Dudoks Vermächtnis
Wer genau hinschaut, bemerkt in Hilversum eine prägnante architektonische Handschrift. Willem Marinus Dudok war von 1915 bis 1954 zunächst Direktor der Stadtwerke und später Stadtarchitekt von Hilversum. In dieser Zeit hat er in seinem zeitlos schlichten Stil bemerkenswerte Bauwerke geschaffen, die bis heute Bestand haben: Arbeitersiedlungen, Schulen und Sportstadien bis hin zum überregional bekannten Rathaus von Hilversum.

Marinus Dudoks Rathaus von Hilversum

Auf dem Heimweg laufen wir am Café Dudok vorbei. Der Wirt schrubbt gerade die Terrasse, weil die Öffnung der Außengastronomie kurz bevorsteht. Außerdem ist in wenigen Tagen Koningsdag. Bis dahin soll alles wieder schön sein  – so wie es früher einmal war!

Hoffen auf bessere Zeiten

Die wahre Geschichte vom Corona-Marathon

Die Schlacht bei Marathon, Bildquelle: Die Welt, picture-alliance/ Mary Evens Pi

Der tapfere Pheidippides
Je länger die Krise andauert, desto häufiger wird in der öffentlichen Debatte das Bild vom Marathonlauf bemüht. Doch hilft uns diese Metapher wirklich weiter? Sind wir nach 42,1 Kilometern tatsächlich schon am Ziel? Historiker vermuten schon länger, dass der Tageläufer Pheidippides 490 Jahre vor Christus weit mehr als nur die knapp 40 Kilometer von Marathon nach Athen gelaufen ist, um den Sieg über die Perser zu verkünden. Denn es war wohl nur die letzte Etappe eines Ultramarathonlaufes, der ihn zunächst von Athen auf den Peloponnes nach Sparta (220 km) führte, um die Spartaner im Kampf gegen die Perser zu Hilfe zu rufen. Von Sparta lief Pheidippides wieder zurück zum Schlachtfeld bei Marathon (250 km). Von dort schleppte er sich schlussendlich nach Athen (33 km), wo er mit der Verkündigung des Sieges vor Erschöpfung tot zusammenbrach. So erzählt es die Legende. Wird so auch unser Corona-Marathon enden?  

2500 Jahre später lohnt es sich, an die vollständige Geschichte des Marathonlaufs zu erinnern. Denn die Ausdauer eines Pheidippides könnte uns in diesen unübersichtlichen Zeiten zum Vorbild gereichen. Wie wir heute wissen, bedurfte es im Frühjahr 2020 eben nicht nur 42 Tage eines Lockdowns, um aus der Krise wieder herauszukommen. Wenn wir die Infektions- und Todeszahlen von damals mit jenen von heute vergleichen, dann könnten sie, wie der zynische Herr Bolsonaro einst spottete, tatsächlich wie ein „kleines Grippchen“ erscheinen.

Mehr als 2,6 Millionen Corona-Tote
Zwölf Monate nachdem die WHO den Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie und damit zu einer weltweiten Bedrohung erklärt hat, dokumentierte die New York Times am 19. März 2021 folgende Zahlen: Weltweit haben sich nachweislich mehr als 121 Millionen Menschen mit COVID 19 infiziert. Mehr als 2,6 Millionen sind mit und an der Infektion verstorben – über 600 Mal mehr als im März 2020, bis dahin waren es „nur“ 4300 Tote.

Wie die folgende Graphik zeigt, steigt die Kurve der 7-Tage-Inzidenzen seit Februar 2021 weltweit wieder spürbar an. Die Hoffnung auf eine Wende nach dem Höchststand um die Jahreswende 2020/21 ist verflogen. Wir sind am Beginn einer dritten Corona-Welle. Wird es diesmal die letzte sein, bevor wir das Virus endlich unter Kontrolle bekommen?  Wir erinnern uns (vielleicht) an die spanische Grippe. Diese letzte große Pandemie kam in drei Wellen. Zwischen 1918 und 1920 forderte sie laut WHO rd. 45 Millionen Menschenleben.[1]   Von diesen Zahlen sind wir heute noch weit entfernt.

Quelle: New York Times online vom 19.3.2021

Jede Impfung ist eine gute Impfung
Zurück ins antike Griechenland: Wie hat es Pheidippides geschafft, dass die Spartaner den Athenern noch rechtzeitig zur Hilfe eilten? Übertragen auf heute stellt sich die nicht eben triviale Frage: Werden wir in der Lage sein, rechtzeitig genügend wirksame Impfstoffe zu produzieren und zu verabreichen, damit die Zahl der Corona-Toten nicht weiter ansteigt? Seit Dezember werden uns jeden Abend Bilder entblößter Oberarme gezeigt. Dann kommt die Spritze mit der lebensrettenden Injektion. Wie oft werden wir uns das noch anschauen müssen, bis wir endlich selber dran sind?

In Deutschland sind wir stolz, dass der erste Impfstoff ausgerechnet an einem Ort mit der verheißungsvollen Mainzer Adresse „An der Goldgrube 12“ entwickelt wurde. Mehr als 400 Millionen Impfungen wurden laut Datenbank der NYT vom 18.3.2021 inzwischen weltweit getätigt, die meisten davon mit dem Stoff von BionTech Pfizer. Im weltweiten Schnitt sind das 5,2 Impfdosen pro 100 Einwohner.

Absolut betrachtet ist das ein riesiger Fortschritt, relativ aber noch viel zu wenig.  Die bekannten Impf-Spitzenreiter sind Israel, die Seychellen, die Vereinigten Arabischen Emirate und Chile. Doch auch in großen Flächenstaaten wie in Großbritannien (27 Mio. Impfungen) oder den USA (113 Mio.) schreiten die Impfkampagnen erkennbar voran. Deutschland liegt derzeit mit 9,9 Mio. Impfungen und 12 Dosen pro 100 Einwohner auf Platz 38. Die Regionen Asien, Afrika und Ozeanien liegen dagegen deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt. In über 35 Ländern wurde bisher erst weniger als 1 Prozent der Bevölkerung geimpft.  

Ein lebenslanger Kampf
Rd. 70 (Doppel-) Impfungen pro 100 Einwohner bräuchte es – so die Experten – um Herdenimmunität zu erreichen. Nicht nur bei uns, sondern grenzüberschreitend überall. Bezogen auf die Weltbevölkerung müssten also in einer ersten Impfrunde rd. 5 Milliarden Menschen versorgt werden, je nachdem, ab welchem Alter Kinder ebenfalls geimpft werden müssen.  Zudem festigt sich die Erkenntnis, dass die immer neuen Mutanten mit hoher Wahrscheinlichkeit jährliche Auffrischungsimpfungen erforderlich machen. Bei stetig wachsender Weltbevölkerung bedürfte es also 5-6 Milliarden Impfungen jährlich. Das ist eine Herkulesaufgabe. Wir werden also das Virus und seine Mutanten ein Leben lang bekämpfen müssen. Gut möglich, dass noch weitere, heute noch unbekannte tödliche Viren hinzukommen. Da mutet der Lauf des Pheidippides schon fast wie ein Sonntagspaziergang an.

Gut organisiertes Testzentrum am Frankfurter Flughafen, Quelle: Sigrist

Wir werden ungeduldig…
Ungeachtet dieser Herausforderungen haben viele Menschen hierzulande schon längst die Geduld verloren. Zugegeben: Es ist bequemer, in den Chor der Missmutigen einzustimmen, als den anstrengenden Blick auf die noch vor uns liegende Wegstrecke zu richten.

Im Fernsehen sehen wir immer wieder diese himmelblaue Rückwand des Pressesaals im Kanzleramt mit den vier leeren Stühlen davor. Anfang März 2021 immerhin schon zum 19. Mal. Haben sich die verantwortlichen Politiker alle klammheimlich davongeschlichen? Doch dann kommt Frau Merkel zu später Stunde doch noch aus der Konferenz mit den Ministerpräsident*innen heraus und erklärt uns mit nicht mehr ganz frischer Miene, wie es mit Deutschland weitergeht. Danach dürfen der Herr Söder mit schon wildem Haupthaar und der etwas strenge Herr Müller aus Berlin als Vertreter der Länder auch noch etwas sagen, damit eben alles von allen gesagt wurde. Bis alle fertig geredet haben, bin ich schon über meinem Weinglas eingeschlafen. So versacken wir nach 12 Monaten Pandemie in unserem abendlichen Corona-Ritual.

… und suchen Sündenböcke
Wie konnte es so weit kommen? Es hatte doch alles so gut angefangen. Wir hatten scheinbar alles im Griff und niedrigere Inzidenz- und Todeszahlen als unsere zögernden Nachbarn. Damals sind wir brav zuhause geblieben, als die Zahlen noch niedrig waren. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt, drängen raus und unterschätzen die ungleich höheren Risiken der Mutanten. Trotzig erfreuen wir uns an den unmaskierten Salsa-Tänzern im Frankfurter Ostpark und ärgern uns über ständig beschlagene Brillengläser, wenn wir beim Bäcker das Kleingeld zählen. Und während wir noch vor kurzem nicht ohne Häme über den Atlantik geschaut haben, registrieren wir erstaunt, dass dort jetzt alles viel schneller geht. In den USA sind inzwischen 11 Mal mehr Menschen als in Deutschland geimpft worden.  

Schade, dass Donald nicht mehr da ist! Denn über ihn konnten wir nach Belieben schimpfen, ohne über die eigenen Fehler zu stolpern. Jetzt aber, wo der nette Herr Biden Präsident ist (aber unter Berufung auf den „Defense Production Act“ ebenso entschlossen amerikanische Interessen verfolgt), müssen wir uns neue Blitzableiter suchen. Dazu haben wir uns wahlweise Gesundheitsminister Spahn oder die EU oder beide zusammen auserkoren. Alles was schief läuft, bekommen sie aufs Butterbrot geschmiert: Die verschleppte Digitalisierung in Deutschland, die dazu führt, dass manche Gesundheitsämter lieber das Faxgerät als die Software für die Übermittlung der Inzidenzzahlen nutzen, die Lieferengpässe bei den Impfstoffen und Selbsttests oder die Versäumnisse auf Länderebene bei ihrer Verteilung. Wir sind eben genervt und suchen Sündenböcke.

Von Bazookas und Wasserpistolen
Weltweit haben Regierungen seit März 2020 unvorstellbare Summen an Hilfsgeldern bereitgestellt, um betroffenen Menschen unter die Arme zu greifen und die Wirtschaft nicht zum Erliegen zu bringen. Die Aktienmärkte haben einen ebenso unvorstellbaren Boom erlebt. Doch trotz aller Hilfen sind viele Menschen in ernste Schwierigkeiten geraten. Nicht krisenfeste Strukturen haben sich als besonders anfällig erwiesen. In Deutschland wird die viel zitierte Bazooka von Finanzminister Scholz von manchen als Wasserpistole verhöhnt, weil sie an falschen Stellschrauben ansetze. Die in Krisenzeiten gern geforderten „schnellen und unbürokratischen“ Hilfen kommen – eben weil sie möglichst einfach strukturiert wurden  – bei vielen, aber nicht bei allen mit den erwünschten Wirkungen an. Eine belastbare Bilanz des Corona-Managements werden wir wohl erst in ein paar Jahren ziehen können.  

Ist unser Corona-Leben schon normal?
Unterdessen geht unser Corona-Leben scheinbar ganz normal weiter. Bei den Antigentests ertragen wir tapfer das Herumstochern in unseren Nasenlöchern. Wir melden unsere alten Eltern, Tanten oder Onkel bei den Impfzentren an, bekommen mehr oder weniger schnell Termine zugewiesen und sind beeindruckt von den überaus freundlichen Mitarbeiter*innen vor Ort.  Doch anderntags werden Impftermine auch wieder abgesagt, weil plötzlich der AstraZeneca Impfstoff vom Markt genommen wird. Beim Discounter ALDI sind die neuen Selbsttests ständig ausverkauft, obwohl täglich neue Lieferungen in die Regale kommen. Unsere selbst genähten Alltagsmasken nutzen wir jetzt als Augenbinden für den Mittagsschlaf. Die nunmehr vorgeschriebenen FFP 2 Masken entsorgen wir aus Nachlässigkeit erst, wenn der Grauschleier unübersehbar geworden ist. Reisepläne machen wir schon lange nicht mehr, und wenn, dann erfordern sie stundenlange Recherchen nach den gerade gültigen Ein- und Ausreise-, Beherbergungs- und Quarantäneregeln. Theaterbesuche kennen wir nur noch aus der Erinnerung, und unsere Kontakte mit der Außenwelt finden überwiegend digital statt. Persönliche Verabredungen stehen jetzt immer unter Corona-Vorbehalt.

Doch allmählich, wenn das Leben immer eingeengter wird und die Aussicht auf einen befreienden Impfpass wächst, wird wohl auch die Zahl der Impfgegner sinken. Man muss die Pferde nur zum Wasser bringen…

Da wollen wir (fast) alle hin, Quelle: Sigrist

Ich habe Freunde aus aller Welt gefragt, wie sie die Pandemie erleben. Ein Freund in Arizona freut sich, dass er seine Kinder endlich wieder in die Schule bringen kann. Eine Freundin auf den Philippinen schreibt, dass ihre 13-jährige Tochter überhaupt nicht mehr aus dem Haus darf. Ein Freund in Belgien beklagt die fortgesetzten Freiheitsbeschränkungen und ein Vetter aus Italien berichtet, wie sich ganze Freundesgruppen über den Umweg einer Übernachtungsbuchung in Hotelrestaurants zum Feiern treffen. Überall ist die Unsicherheit groß, schwindet das Vertrauen in die Politik. Der um sich greifende Unmut beflügelt die Suche nach Schlupflöchern.

Kraft tanken für den Ultramarathon
Der Kampf der Athener gegen die Perser dauerte übrigens mehrere Jahrzehnte. Doch anders als bei unserem Helden Pheidippides, der in Athen nach Verkündung des Siegs tot zusammenbrach, stehen die Chancen gut, dass wir in unseren Breiten mit einem blauen Auge ins Ziel kommen. Das schmälert nicht die Trauer über die Toten und die Sorge über die Spätfolgen überstandener Infektionen. Wir haben das Virus und seine Varianten zweifellos unterschätzt und werden es nun lebenslang in Schach halten müssen.

Für Milliarden Menschen aber, die schlechteren Zugang zu Impfungen haben oder unter Regierungsversagen leiden, ist der Corona-Marathon noch lange nicht vorbei. Deshalb müssen die internationalen Impfkampagnen entschieden weiter ausgebaut werden. Das ist der eigentliche Kraftakt, der noch bevorsteht. Er verlangt unsere ganze Solidarität, liegt aber auch im Eigeninteresse, sofern wir eines Tages wieder über unseren Tellerrand schauen wollen.  Das Durchhaltevermögen eines Pheidippides könnte uns dabei anspornen.


[1] Pandemien – Todesfälle ausgewählter Krankheitsausbrüche | Statista

Mit Opa durch Küsnacht

(aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Kinderwagenperspektive

Rundstrecke:  Im Wiesengrund – Untere Heslibachstraße – Schule – Reformierte Kirche Küsnacht – Dorfstraße – Zürichstraße – Unterführung S-Bahn – Unter Dorfstraße – Poststraße – Postweg – Unterführung Seestraße – Hornweg – Hornelangpark – Spielplatz – Hornweg – Zehntentrotte – Seestraße – Im Hörnli – Schiffsanleger Küsnacht Heslibach – Freihofstraße – S-Bahn Unterführung – Untere Heslibachstraße – Im Wiesengrund; ca. 4 km.  

4 km mit dem Kinderwagen durch Küsnacht (mit Google Maps)

Der Auftrag

Es ist reiner Zufall, dass meine Enkelin ihre erste Dienstfahrt mit Opa ausgerechnet in Küsnacht, an der Goldküste des Züricher Sees antritt. Der Auftrag an Opa lautet schlicht: Drei Tage die elfmonatige Paula hüten (aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ist der Name frei erfunden).  Ich erhalte alle Freiheiten, verfüge als Grundausstattung über einen geländegängigen Kinderwagen, jede Menge Windeln in Größe 4 sowie über eine Auswahl etwas fad schmeckender Hipp-Gemüse-Gläschen. Ferner erhalte ich Hinweise zu Einkaufsmöglichkeiten sowie eine Einführung in die Wunder des Thermomix-Kochers für die Zubereitung von Gemüsebrei.

Paula ist ein überaus aufgewecktes Mädchen, das jedoch an Opas kunstvoll aufgebauter Kugelbahn enttäuschend wenig Interesse zeigt. Mit raschen Handbewegungen hat sie die Konstruktion blitzschnell wieder dem Erdboden gleich macht. 

Also ändern wir das Programm und machen uns auf zur Erkundung des 14-Tausend-Seelen-Dorfes Küsnacht. Paula wohnt hier mit ihren Eltern erst seit wenigen Monaten. Für sie und mich ist alles neu. Paula hat immerhin einen Schweizer Pass und ist damit Einheimische. Ich bin von auswärts angereist und verbinde mit der Schweiz leider nur wenig mehr als Schweizer Käse.

Grüezi miteinand‘, werden der Kinderwagen und ich freundlich von Passanten gegrüßt. Doch bis ich vom deutschen Guten Tag, oder vom Tiroler Grüß Gott endlich umgeschaltet habe, ist es für eine Erwiderung längst zu spät. Grüezi, Grüezi, Grüezi, grüße ich nun mehrmals verstohlen den Kinderwagen von hinten. Für die nächste Begegnung sind wir nun schon besser vorbereitet! Jedenfalls ignorieren die Leute wohlwollend den unverkennbar deutschen Akzent des Opas.

Paula und ich rollern frohgemut vorbei an hübschen Villen mit aufgeräumten Vorgärten. Viele Häuser stammen aus der vorigen Jahrhundertwende, andere sind neueren Datums, weitere werden gebaut. Küsnacht wächst und wirkt gediegen, sauber und ordentlich. Auf der Homepage der Gemeinde erfahre ich neben vielen anderen interessanten Dingen, dass der Ort mit dem goldenen Kissen im Wappen auch solide Steuereinnahmen einfährt.  

Von unserem Ausgangspunkt im Wiesengrund kommen wir schnell auf die Untere Heslibachstraße und zur örtlichen Schule. Neben dem adretten Schulgebäude liegen ein großer Sportplatz und gleich daneben auch noch eine Schwimmhalle, aus der gerade zwei Schülerinnen mit klatschnassen Haaren herauskommen. Statt Schwyzerdütsch schwatzen sie auf Englisch miteinander. Das verwundert nicht, wenn man weiß, dass in Küsnacht ausweislich der Dorfstatistik rund 25% aller Einwohner als Ausländer registriert sind.  Nicht wenige von Ihnen dürften ihr (gutes) Geld im nahegelegenen Zürich verdienen.  Gleich gegenüber der Schule holt eine Mutter ihren Filius aus der Kita ab.  

Es ist ein wunderbar milder Oktobernachmittag und offensichtlich Zeit für Mütter und polnische Au Pair Mädchen, die Kinder von Schule oder Kinderstätten abzuholen. Ja, ich begegne zu dieser Stunde tatsächlich keinen Vätern und lediglich einem türkischen Opa, der mit Enkel und Fahrrad unterwegs ist. 

Riesling für die Reformierte Kirche?

Vor der Reformierten Kirche Küsnacht machen wir einen kurzen Halt, denn mitten im Dorf erstreckt sich zu meiner Überraschung ein großer Weinberg. Die Trauben sind längst gelesen. Doch wenn ich mich recht an das Gläschen vom Vorabend erinnere, könnten sie sich bald in einen ansprechenden Riesling verwandeln. Der Weinbau, so steht’s in der Geschichte Küsnachts geschrieben,  hat an diesen sonnenverwöhnten Hängen des Zürichsees eine lange Tradition.

Die Kunst des Kinderwagenschiebens

Zurück zu meinen großväterlichen Pflichten. Paula hat ihr anfängliches leicht nörgelndes Gemurmel schon nach den ersten 500 Metern unserer Spazierfahrt eingestellt und ist mit der Bewegung des Kinderwagens selig eingeschlafen. Die Mütze ist ihr über die Augen gerutscht. Da hängt sie nun wie eine Augenbinde. Den Schlaf unterbricht sie auch nicht, als ich den Kinderwagen reichlich unsanft Stufe für Stufe und Schlag auf Schlag vom Kirchplatz hinunter zur Dorfstraße manövriere. Klassischer Anfängerfehler – natürlich hätte ich die barrierefreie Route rechts um die Kirche herum zum Dorfplatz nehmen sollen.

Tatsächlich ist Küsnacht fast überall barrierefrei. Ob es nun durch die Unterführungen unter der stark befahrenen Seestraße oder über die Rampen zu den  S-Bahngleisen geht, mit dem Kinderwagen kommt man überall gut hin. Mühsam wird es nur, wenn man die Hügel in die höher gelegenen Wohnviertel hinaufläuft, oder gar entlang des Tobel, dem Küsnachter Dorfbach, aufwärts die Kammhöhe erklimmen will.

Das machen wir heute nicht, sondern steuern stattdessen auf das Seeufer zu. Ein Höhepunkt ist zweifellos die Hornanlage mit dem sogenannten Delta, durch das der Dorfbach in den Züricher See plätschert. Das „Delta“ hat in etwa die Spannweite einer ausgezogenen Hundeleine. Obwohl hier also keine spektakuläre Flusslandschaft aufwartet, strahlt der Ort eine wohltuende Ruhe aus. Am kleinen Strand stehen Stühle herum, die zu einer kontemplativen Pause einladen.

Kontemplatives am Dorfbachdelta

Hinter mir liegt der offensichtlich beliebte Spielplatz der Hornanlage. Es trifft sich gut, dass gleich daneben eine gepflegte öffentliche Toilette ist. Warum erwähne ich das? Weil man sich als Opa mit schwächelnder Blase schnell die Frage stellt, wie man dieses Problem löst, ohne das Enkelkind allein zu lassen. Aber glücklicherweise findet sich am Spielplatz schnell eine freundliche Mutter, die auf den Kinderwagen aufpasst. Als ich mit Paula tags drauf durch Zürich spaziere, treffe ich im Café wieder eine hilfsbereite Dame, die mir beruhigend erklärt: „Ich habe reichlich Großmuttererfahrung!“

Viel Prominenz am Seeufer
Weil Paula immer noch schläft und auch noch ein bisschen zu klein ist, heben wir uns die Erkundung des Spielplatzes für ein anderes Mal auf. Stattdessen biegen wir rechts in den schmalen Hornweg ein und kommen zum interessantesten Abschnitt unserer Spazierfahrt. Der Hornweg verläuft rd. 50 Meter parallel zum Seeufer. Hier stehen die schönsten Landhäuser und Villen Küsnachts. Mal öffnet sich der Blick auf herrliche Gärten mit Kieseinfahrten (wer Kies hat, hat Kies), mal endet er abrupt vor hohen Metallzäunen. An diesem Seeufer hat übrigens der deutsche Sozialist August Bebel Ende des 19. Jahrhunderts eine Villa bezogen; und hier findet man auch das hübsche Gelände des Carl Gustav Jung Instituts, in dem psychotherapeutische Fortbildungen angeboten werden. Das sehenswerte ehemalige Wohnhaus des Psychiaters und seiner Frau liegt nur ein paar Hundert Meter weiter an der Seestraße und ist heute als Museum zugänglich.

Der mit C.G. Jung gleichaltrige Thomas Mann (1875-1955), der seine Schweizer Exiljahre 1933-38 mit Familie ebenfalls in Küsnacht verbrachte, wohnte unterdessen weiter oben am Hang in der Schiedhaldenstraße. Zeitzeugen berichten indes, dass er und die Küsnachter nicht so recht miteinander warm geworden sind.   

Nicht zugänglich ist auf der Seestraße das Schloss Algonquin, der Wohnsitz von Tina Turner, die sich, inzwischen über achtzigjährig, nach einer Weltkarriere als Sängerin an den Züricher See zur Ruhe gesetzt hat. Wenn Paula größer ist, werden wir die Boxen aufdrehen und uns gemeinsam den Klassiker „Proud Mary“ anhören. Kann aber auch gut sein, dass Paula statt Tina Turner eher TikTok cool findet.

Nachwuchs für Tinas Fangemeinde?

Unsere Spazierfahrt am See endet am Schiffsanleger Küsnacht Heslibach. Von hier könnte man direkt nach Zürich hinüber schippern oder aber das eigene Boot zu Wasser lassen. Mein Blick schweift über das Seeufer und hinüber zu den schneebedeckten Schweizer Hochalpen. Das genügt als Eindruck, mehr gibt es zu diesem schönen Fleckchen Erde nicht zu sagen. Außer, dass wir jetzt ganz schnell nach Hause müssen, um im Thermomix Gemüsebrei zu zaubern.

Schweizer Idylle am Zürichsee