Mailand – Streifzüge mit Überraschungen 


Unter dem Schutz der Madonnina
Ich kann mich gar nicht satt sehen an den Mailänder Selfie-Schönheiten. Sie posieren so wunderbar selbstverliebt auf der großen Piazza vor der prächtigen Marmorfassade des Mailänder Doms. Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien, augenscheinlich aus allen Teilen der Welt, haben sich an diesem schon kühlen Novemberwochenende ganz friedlich auf dem Domplatz zum Fotoshooting versammelt.

Ausnahmsweise keine Ukraine-, Israel- oder Palästinenserdemo, sondern viele friedliche Menschen auf einem Fleck. Sicherheitshalber laufen auch ein paar Carabinieri in ihren feschen Uniformen herum, und in einer Ecke des Platzes zeigen Soldaten in Kampfuniform Präsenz. Die freundlichen jungen Männer sehen aber eher wie Models der italienischen  Armee aus, als dass sie ernsthaft jemandem ein Haar krümmen wollten.

Über allen und allem schwebt hoch oben auf der Spitze des Domes die „Madonnina“, wie sie die Milanesi liebevoll nennen, die vergoldete Santa Maria Nascente, nach der auch der Dom benannt ist. Seit gut 250 Jahren fährt sie nun schon in den Himmel auf. Eigentlich sollte die Schutzpatronin der Stadt für alle Ewigkeiten die Höhe aller Mailänder Gebäude begrenzen, doch dann setzte auch in Mailand der Wolkenkratzerboom ein. Was tun, wenn die Hochhäuser nunmehr den Dom überragen? Der Allianz Tower im Mailänder CityLife Stadtteil ist inzwischen das höchste Gebäude der Stadt. Die Madonnina überragt er um mehr als hundert Meter. Die Architekten haben, so wird erzählt, eine „italienische“ Lösung gefunden. Sie haben eine Replika der Madonnina auf den Allianzturm platziert und so die alte Himmelsordnung wieder hergestellt.   

Blick von den Domterrassen auf die Mailänder Skyline und Alpen

Doch verweilen wir noch einen Moment im Dom. Ende des 14. Jahrhunderts wollte sich die einflussreiche Adelsfamilie der Viscontis mit dem Kirchenbau ein unübersehbares Denkmal setzen. Doch bis alles fertig war, hat es mehr als 500 Jahre gedauert. Deshalb diente der Dom auch späteren Machthabern als nützliche Bühne der Selbstinszenierung.  Napoleon Bonaparte nutzte den Dom zwar zunächst als Pferdestall für seine Invasionstruppen, ließ dann aber wichtige Bauarbeiten an der Kirche ausführen. 1805 krönte er sich schließlich im Dom zum König von Italien. Dafür beschaffte er sich eigens die legendäre „Eiserne Krone“ der Langobarden aus dem nahegelegenen Monza.

Der Überlieferung nach wurde in dieser Krone ein eiserner Nagel von der Kreuzigung Christi verarbeitet, deshalb erfreute sich die Krone über Jahrhunderte größter Wertschätzung. Auch Karl der Große ließ sich im Jahr 774 die Eiserne Krone aufs Haupt setzen. Wie bei vielen Reliquien ist die Geschichte der Krone zu schön, um wahr zu sein. Italienische Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass der vermeintliche eiserne Christusnagel tatsächlich aus Silber und deutlich jüngeren Datums ist. Aber Reliquien haben oft wenig mit der Wahrheit zu tun. Man muss einfach an sie glauben. Und als Touristenmagnet sind sie seit ihrer Erfindung auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Darauf hat schon der Mailänder Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco mit feiner Ironie in seinem Roman Baudolino hingewiesen. 

Es zieht sich durch die Geschichte des Abendlandes, dass weltliche Führer allzu gerne der Versuchung erliegen, ihren Machtanspruch mit kirchlichem Segen zu untermauern. Es überrascht deshalb nicht, dass auch Benito Mussolini – inzwischen sind wir im 20. Jahrhundert angekommen – den Mailänder Dom zu propagandistischen Zwecken nutzte. Während seiner Regierungszeit wurde die Domfassade im neo-gotischen Stil vollendet. Ihre ästhetische Vollkommenheit sollte auch die Einzigartigkeit des faschistischen Regimes unterstreichen.

Kunstvolle Strebebögen sichern die Statik des Doms

Heute ist der Mailänder Dom die drittgrößte Kirche der Welt. Ob man nun der Institution Kirche treu ist oder ihr kritisch gegenübersteht – der Kirchenbau ist ein gotisches Meisterwerk! Die Architekten haben es geschafft, die Statik scheinbar zu überlisten. Das lässt sich am besten bei einem Spaziergang auf dem Dach des Doms erkennen: In Abkehr von den klobigen Gemäuern und kleinen Fenstern romanischer Kirchen gelang es den Baumeistern mit Hilfe äußerer Stützpfeiler und Strebebögen große Kirchenfenster zu ermöglichen und den riesigen Kirchenraum mit natürlichem Licht durchfluten zu lassen. Das Spiel der Sonne mit den Glasmalereien biblischer Szenen erzeugt dabei eine besondere spirituelle Atmosphäre.

Eleganz hat ihren Preis: Galleria Vittorio Emanuelle II

Die Macht der Mode
Kirche und Macht, das haben wir gesehen, ziehen sich gegenseitig an. Doch Mailand ist auch Wirtschaftsmetropole und Trendsetter in der Welt der Mode. Hier stehen weithin sichtbar die größten und höchsten Bankhäuser Italiens, aber wer weiß (in Deutschland) schon, dass das Bankhaus Intesa Sanpaolo nach der Bilanzsumme das größte italienische Kreditinstitut ist?  Die Modefirmen Armani, Gucci, Valentino oder Versace, um nur einige zu nennen,  aber kennen vermutlich alle, die gerne Schaufenstershoppen gehen und sich vom schönen Schein allzu gern verführen lassen.

In Mailands Modeviertel sind alle großen Namen präsent. Wir schlendern durch die überdachte Passage der eleganten Galeria Vittorio Emanuele II und spielen das alte Spiel  „Wer hat das schönste Schaufenster“?  Ich entscheide mich für den jungen Herrn mit weißem Jackett und schwarzer Hose von Prada. Er sitzt ganz cool in einem silbrigen Trichter, der mich an ein Düsentriebwerk erinnert. Hoffentlich springt es nicht gleich an.

Der Prada-Mann

Man kann es auf dem Foto kaum erkennen, aber Mann trägt in Mailand nun Hosen, die eigentlich zu kurz sind. Wie bei den Damen kommen damit die männlichen Fesseln besser zur Geltung, deshalb sollte der Schuh elegant und gerne etwas hochpreisiger sein.  In Mailands Boutiquen findet sich dazu die richtige Auswahl. Ein paar Straßenecken weiter treffen wir passend zum Prada-Mann die im ähnlichen Outfit gekleidete Prada-Frau.  

Wir wandern durch die eleganten Straßen rund um die Via Monte Napoleone und Via della Spiga. Hier reiht sich eine exquisite Modeboutique an die nächste. Es fällt auf, dass etliche Schaufenster gerade umgebaut werden. Es muss offenbar immer wieder etwas Neues her, denn der Wettbewerb unter den Modeschöpfern ist groß.

Eher zufällig gelangen wir in den Innenhof eines ehemaligen bischöflichen Palazzos und erleben eine kleine Überraschung! Inmitten der Piazza Quadrilatero steht ein quadratischer fensterloser Tempel mit beigefarbenen Außenwänden. Neugierig laufen wir um das Gebäude herum und entdecken rechts und links vor dem Eingangsportal zwei Damen, gekleidet in beigefarbene Teddymäntel. Über der Tür steht der Firmenname. Jetzt begreifen wir, es sind die Türsteherinnen des Max Mara Tempels. Sie sehen so elegant aus, dass wir, eher rustikal bekleidet, uns nicht trauen einzutreten. Aber wir werden die Teddys wiedersehen!

Wenn man so durchs Mailänder Modeviertel spazieren geht, drängt sich die Frage auf, wer im internationalen Modegeschäft eigentlich die Nase vorn hat?  Das Internet offenbart dazu ein paar Überraschungen. Weltweit wertvollstes Bekleidungsunternehmen ist der breit aufgestellte französische Luxuskonzern LVMH Moet Hennessy Louis Vuitton mit einem Jahresumsatz von rd. 51 Milliarden USD (2020). Das ist keine Kleinigkeit!  Schon auf Platz drei folgt Adidas mit 22,6 Mrd. USD. Prada, das größte italienische Modeunternehmen, kommt auf „nur“ 3,3 Mrd. EUR.  Prada spielt wie Louis Vuitton oder Hermès in der Champions League. Das ist aber nicht zu vergleichen mit dem Massengeschäft.

Mit billig hergestellter Ware wird richtig viel Geld verdient!  In Europa hat die vermutlich nur Fachleuten bekannte spanische Textilgruppe Inditex mit einem Jahresumsatz von 23,6 Mrd. EUR (2022)  und einem Gewinn von beachtlichen 4,1 Mrd. EUR mit großem Abstand die Nase vorn.  Dahinter verbergen sich Labels wie Zara, Massimo Dutti und Bershka. Die in Deutschland bekannten Marken H&M und Zalando folgen in dieser Statistik mit einigem Abstand auf den Plätzen 2 und 3.  „Fast Fashion“ erlebt derzeit einen Boom. Doch das Geschäft mit trendiger Massenware hat auch seine dunklen Seiten. Denn die Wertschöpfungsketten sind intransparent, die Arbeitsbedingungen in den Herstellungsländern häufig sehr prekär und die Umweltbelastungen der Wegwerfmode erheblich.   

Doch zurück nach Mailand.  Am Abend sind wir im Ausgehviertel Brera unterwegs und gönnen uns in der bekannten „Jamaica Bar“ einen ersten Aperitif.  Um uns herum sind auffallend viele Duftboutiquen angesiedelt. Man kann sich hier alles Mögliche auf den Handrücken sprühen und hoffen, den richtigen Riecher zu haben. Vor einem Schaufenster bleibe ich wie gebannt stehen. Da ist er wieder, der beige Teddymantel! Die Dame in ihm testet ein Parfüm.  Ich bin jetzt doch neugierig und google wenig später nach dem Preis des Outfits: Für schlappe zwei bis dreitausend Euro ist das gute Stück schon zu haben. 

Auf der Suche nach dem besten Duft

Die Macht der Lust
Sonntagmittag kommt die Sonne raus und deshalb machen wir uns auf den Weg zu den Navigli. Da steckt das Wort navigare drin: Es handelt sich um die Kanäle von Mailand. Sie durchzogen einst die gesamte Mailänder Innenstadt. Bis heute ist Mailand über solche Kanäle mit dem Lago Maggiore und dem Lago de Como verbunden, und früher waren sie wichtige Transport- und Handelsrouten.  Nicht zuletzt wurde der grau-rosa Marmor für den Bau des Mailänder Doms aus dem rd. 100 km entfernten Candoglia über diese Kanäle herbeigeschifft.

Heute sind die Navigli ein munteres Ausgehviertel mit vielen Kneipen und Läden. Wir kehren auf gut Glück in der „La pizzeria Tradizionale“ am Naviglio Grande ein und sitzen gemütlich inmitten von  Mailänder Groß- und Kleinfamilien, denn sonntags bleibt bei der Mamma die Küche kalt. Auf dem Rückweg schlendern wir über den Corso di Porta Tricinese und auf der Via Torino, eine der älteren Einkaufsstraßen Mailands, zurück in die Innenstadt. Natürlich finden sich auch hier jede Menge sehenswerter Kirchen und Bauwerke, doch insgesamt hat diese Gegend wenig von der Noblesse des Modeviertels. Hier reihen sich Fastfoodketten und Billigoutlets für jeden Geschmack aneinander. 

Auf dem Corso di Porta Ticinese wartet eine auffallend große Schlange junger Menschen auf Einlass in einen scheinbar unscheinbarem Laden. Ich schaue durchs Fenster und beobachte, wie junge Damen in weißen Schürzen mit sehr langen Fingernägeln und sehr langen Wimpern bunte Gebäckstücke verkaufen.  Der Laden heißt „Mr. Dick“ und versteht sich als „La prima sexy pasticceria en Italia con dolci piu cool del momento“. Frei übersetzt, werden hier die süßesten erotischen Leckereien von ganz Italien angepriesen. Der Renner sind Waffeln in Penisform und Vulvas, ausgebacken zu zarten rosa Cupcakes.  Das ist allerdings Geschmackssache.

Mailänder Straßenkünstler

Die Macht im Staat: Giorgia Meloni vs. Elly Shein
Von Mailand aus haben wir unsere lombardische Verwandtschaft besucht. Und selbstverständlich wollten wir von ihnen wissen: Wie haltet ihr es mit Giorgia Meloni, der italienischen Ministerpräsidentin von der postfaschistischen Partei der Fratelli d‘Italia?  Ein gutes Jahr sei sie nun schon im Amt und habe ihre Drei-Parteien-Regierung relativ geräuschlos zusammen gehalten, wird uns berichtet. Bei so sperrigen Partnern wie Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega und Antonio Tajani von der konservativen Forza Italia sei das ein Erfolg, denn Regierungen in Italien halten im Schnitt nicht länger als 18 Monate. Nach einem Bericht von Bloomberg, einer US-Nachrichtenagentur, halten sich Melonis Zustimmungswerte, anders als bei ihren Vorgängern, auch nach 13 Monaten im Amt solide bei knapp 30%. Sie wird als self-made woman wahrgenommen, die niemandem außer sich selbst und engsten Beratern vertraue. Ihre Politik gilt als pragmatisch und ist trotz aller Wahlkampfrhetorik EU-freundlich, wohl auch, weil sie auf EU-Gelder angewiesen ist.  In der Migrationspolitik, das kann man auch in deutschen Zeitungen lesen,  folgt ihr inzwischen die gesamte EU auf dem Kurs, illegale Einwanderung stärker bekämpfen zu wollen.  Die Parteien der politischen Mitte, so sagen uns unsere Verwandten,  seien in Italien bedeutungslos geworden. Die linke 5-Sterne-Bewegung habe sich völlig diskreditiert. 

Eine neue Hoffnungsträgerin der linken Mitte könnte indes Elly Shein werden. Die Juristin mit US-amerikanischen, schweizerischen und italienischem Pass, war seinerzeit Wahlkampfhelferin Barack Obamas und wurde vor kurzem zur Präsidentin der italienischen Sozialdemokraten gewählt. Die erst 38-jährige Shein wird in den italienischen Medien als Anti-Meloni hochstilisiert. Zwei Powerfrauen, von denen sicher noch viel zu hören sein wird. Das ist neu in der italienischen Politik. 

Auf dem Weg zum Mailänder Flugplatz Linate steigen wir ein in die grüne Hölle. Die Wagen der kürzlich eröffneten U-Bahnlinie M 4  sind mit tropischen Dschungelbildern ausgeklebt.  Fai volare tuoi sogni, lass deine Träume fliegen, so lockt die Lufthansa und soll uns heute eigentlich ins gar nicht so tropische Frankfurt fliegen. Tatsächlich hat der Kranichflieger kürzlich den Kauf von zunächst 41% der ITA Airways beschlossen. Ziel ist offenbar, zahlungskräftige Mailänder Kundschaft über das Frankfurter Drehkreuz in alle Welt ausfliegen.  Mal schauen, ob das klappt.

Über einen großen Mailänder haben wir leider überhaupt kein Wort verloren. Leonardo da Vinci liegt im Mailänder Dom begraben, doch sein Genie ragt über alle Madonninas hinaus. Um ihn angemessen zu würdigen, wäre ein viel gewichtigerer Streifzug als dieser hier vonnöten.

Die weiße Diva zeigt sich gnädig – Eine Wanderung rund um den Mont Blanc

Blick auf das Massiv des Mont Blanc (4810 m) von Südosten aus


Dieser Bericht beschreibt eine Wanderung rund um den Mont Blanc im Juli 2023, die vom DAV Summit Club angeboten und begleitet wurde. Er gibt die persönliche Sicht des Verfassers wieder.


Morgens um viertelvorsieben gibt’s am Frühstücksbuffet ein Gedränge wie an der Sektbar in der Theaterpause. Eine junge Dame mit sorgsam geflochtenen Zöpfen füllt sich bedächtig Joghurt in eine Schale, wendet sich dann den Müsliangeboten zu, nimmt hier ein Löffelchen und von dort noch ein Portiönchen und hinter ihr staut sich die Schlange der Wartenden bis auf den Flur. Die Auberge du Mont Blanc im Schweizer Bergdorf Trient ist mit über 60 Gästen ausgebucht. Es ist Hochsaison auf der Wanderroute rund um den Mont Blanc.

Einmal Mount Everest und zurück
Tags zuvor haben wir unsere Königsetappe geschafft. Über 1000 Höhenmeter geht es in hochalpinem Gelände steil hinauf zum 2665m hohen Joch des Fenêtre d’ Arpette, dann wieder 1400 m hinunter mit wunderbaren Blicken auf den Trientgletscher am Nordrand des Mont Blanc Massivs. Zehn Wanderstunden stehen am Ende auf dem Tageskonto. Drei Viertel der Rundstrecke liegen nun hinter uns.

Die „Route du Mont Blanc“ – es stimmt schon, was überall geschrieben steht  – ist eine der schönsten und abwechslungsreichsten Fernwandertouren in den Alpen. Sie ist aber auch eine physische und mentale Herausforderung, denn nach dem Jo-Jo-Prinzip geht es jeden Tag meist mehr als 1000 Meter rauf und 1000 Meter wieder runter. Da hilft Bergerfahrung und Kondition, auch wenn die Wege – mit wenigen Ausnahmen – technisch nicht schwer zu laufen sind. Acht Wandertage dauert unsere Umrundung. Am Ende werden wir acht Pässe überquert und – alle Aufstiege zusammengenommen – einmal den Mount Everest erklommen haben. 

Blick auf den Trientgletscher, im Hintergrund die Aiguille de Tour (3544m)
 

Rustikale Unterkünfte und reichhaltiges Essen
Zurück in die Auberge: Unsere Herbergsmutter hatte unserer Sechs-Frauen-und-vier-Männer-Truppe ein doppelstöckiges Matratzenlager zugewiesen, dazu gesellten sich noch ein Vater mit Tochter aus Kalifornien. Wenn zwölf Menschen erschöpft und auf engstem Raum ihre Rucksäcke auspacken, kann es recht kuschelig werden. Doch das erstklassige Käsefondue am Abend und die edlen Tropfen vom roten Gamay und weißen Fendant lassen unser Stimmungsbarometer schnell wieder auf stabile Höhenlagen ansteigen.

Zudem ist unserem „Zimmerscout“ in der Gruppe auch an diesem Abend wieder ein Coup gelungen. Und das kam so: In größeren Hütten mit Matratzenlagern sind die Belegungen oftmals ungleich verteilt. Da lohnt es sich zu schauen, wo noch ein bisschen mehr Platz zum Schlafen ist. Im großen alten Haus der Auberge hat unser Scout tatsächlich noch ein freies Bettenlager entdeckt – und damit konnten wir unsere Frauenmannschaft von der männlichen Schnarch-Fraktion befreien! 

Rund um den Mont Blanc: bis zu 170 km durch Frankreich, Italien und die Schweiz mit etlichen Varianten. Die MTB Seite  www.montourdumonblanc.com bietet gute Hinweise zu Unterkünften und Wanderrouten.

Auf unserer Tour gegen den Uhrzeigersinn übernachten wir drei Mal in Frankreich und Italien und zwei Mal in der Schweiz. Jede Hütte hat ihre landestypischen Eigenarten. Italienischer Zwieback zum Frühstück führt schonmal zu leichtem Naserümpfen, das Lunchpaket ist dafür umso größer. Die Abendessen verdienen rundum sehr gute Noten, deutlich bessere als das Knarr-Konzert der hölzernen Doppelstockbetten. Am Morgen wundert man sich, dass es wider Erwarten doch gelungen ist, bis 5 Uhr zu schlafen. In den Sanitäranlagen kann es schonmal eng werden. „Du musst halt nachts gehen oder bis zur nächsten Hütte aushalten“, rät unser abgebrühter Bergführer.

Wander*innen aus aller Welt
Mehr als vierzig Unterkünfte liegen auf der Strecke, dazu etliche Campingplätze. Gut 1.500 bis 2.000 Wander*innen dürften sich in der Hochsaison täglich auf den Weg machen,  aufs Jahr gerechnet sicherlich zehn- bis zwanzigtausend. In der Hochsaison sind die Hütten voll,  aber auf den Wegen gibt es kein störendes Gedränge.

Wir treffen gleichwohl immer wieder auf die nettesten und verrücktesten Leute.  Da ist die britische Familie mit Vater Max, dem Bodybuilder. Auf seinem Herkulesrücken ist der Familienstammbaum eintätowiert. Da kann man nachlesen, dass er mit Frau Monica und seinen drei Kindern unterwegs ist. Der Ire, nennen wir in Ian, packt gern andrer Leute Sonnenhüte ein, entpuppt sich aber sonst als feiner Kerl. Eine französische Mutter wandert mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Der lässt seine Drohne über die Gletscher fliegen. Zwei Skandinavierinnen sind mit Zelt unterwegs. Sie schleppen 15 kg Gepäck mit sich herum, deshalb treffen wir sie bei jeder Pause wieder.  Eine Inderin aus Bangalore, die als IT-Fachfrau in Hamburg arbeitet, hat sich als Solowanderin aufgemacht. Sie meint, dass die TMB-Tour in Indien bekannter als in Deutschland sei. Und da sind auch noch die Wandergruppen aus Japan, Südkorea und China. Der Mont Blanc ist auch in Asien ein Begriff.

Wir glauben, dass ohne Handy-Ladestationen nichts mehr geht!

Wir begegnen Trailrunnern mit den dicken Sohlen unter den Laufschuhen. Sie wollen die Mont Blanc Runde beim bevorstehenden Ultramarathon in drei Tagen schaffen. Und hin und wieder wundern wir uns über Mountainbiker, die ihre Drahtesel über das unwegsame Gelände schieben.

Der Mont Blanc ist ein weltweiter Publikumsmagnet. Im ehrwürdigen französischen Bergdorf Chamonix, dem Start- und Zielort unserer Tour,  ist Englisch längst zur Umgangssprache geworden. 

Bedächtiger Aufstieg von Chapieux zum Col de Seigne

Bergsteigerlegenden und schwindende Gletscher
Die Spitze des Mont Blanc sehen wir nur selten, denn immer wieder schieben sich vorgelagerte Gipfel in die Blickachse.  Die beste Zeit zum Schauen ist frühmorgens und abends, tagsüber ziehen Wolkenschleier auf. Doch der erfahrene Bergführer weiß auch diese Befindlichkeit der weißen Diva zu deuten: „Trägt sie einen Hut, bleibt das Wetter gut!“

Die Besteigung des Mont Blanc und seiner Nebenspitzen (Aiguilles) ist Stoff für reichlich Bergsteigerlegenden. Natürlich ist das nichts für Weicheier, lässt uns unser Bergführer unmissverständlich wissen. Er selbst, so erzählt er,  hat jedoch etliche Gipfel erklommen: Die Aiguilles zum „akklimatisieren“,  den besonders spitzen Dent du Géant (Zahn des Riesen), weil es eine „lustige Kletterei“ ist,  und als Höhepunkt der Aufstieg zur weißen Diva selbst. Auf den Karten zeigt mir unsere Wanderführerin (ja, wir werden abwechselnd von zwei Bergspezialist*innen geführt) die eng beieinander liegenden Höhenlinien auf den steilen Gletscherpassagen zum Gipfel. Das nötigt mir schon beim Hinschauen gehörigen Respekt ab. Und mit bloßem Auge erkenne ich auch aus der Ferne die enormen Gletscherspalten.  

Glaubt man den einschlägigen Hochtourenanbietern, dann gehört die Besteigung des höchsten Bergs Zentraleuropas nach wie vor auf die „Must-Do-Liste eines jeden Bergsteigers und Abenteurers“.  Doch dieses alpine Businessmodell beginnt zu kippen. Gewiss ist, dass mit dem Klimawandel auch das Bergsteigen gefährlicher wird.  Der Permafrost, der die Felsen wie Kit zusammenhält, löst sich allmählich auf. Bei Niederschlag im Sommer liegt die Schneefallgrenze inzwischen so hoch, dass sich die Gletscher mangels Neuschnee nicht mehr regenerieren und das bläulich schimmernde Eis direkt der Sonne ausgesetzt ist. Inzwischen häufen sich die Nachrichten über Gletscher- und Felsabbrüche,  Expert*innen warnen vor weiteren Extremereignissen.   

Noch birgt das Mont Blanc Gebiet ungeheure Gletschermassen. Das Mer de Glace (Eismeer), Frankreichs größter Gletscher, ist mehrere Hundert Meter dick. Doch die Schmelze ist auch hier nicht mehr aufzuhalten.

Gletscherschmelze am Südosthang des Mont Blanc Massivs

Genusswandern mit Aussicht
Unsere Wandergruppe ist unterdessen mit der Umrundung statt der Besteigung des Mont Blanc bestens bedient. Wir erfreuen uns am überaus abwechslungsreichen Panorama, an sprudelnden Bächen und blühenden Bergwiesen,  beobachten Wildbienen und Schmetterlinge und laufen mutig an grasenden Rinderbullenherden vorbei – dem Elektrozaun sei gedankt.  

Es sind ja oft die kleinen Zipperlein, die auf einer Bergtour die Stimmung heben oder kippen können: Wie begegne ich Rücken- und Schulterschmerzen? – Nun, der Rucksack sollte 8 bis 9 kg Gewicht, inkl. Tagesproviant und Wasser, nicht überschreiten. Rei in der Tube wiegt weniger als zu viel Wechselwäsche! Wie binde ich  meine Stiefel, damit die Blasen weniger schmerzen? – Einschlägige Videos auf YouTube zeigen es mir!  Wie bekomme ich meine angegriffene Verdauung in den Griff? – Gut, wenn die passende Arznei mit im Rucksack ist!  Wo kann ich mein Handy laden? –  Ein echter Engpass in den Berghütten! Ein Wirt macht doch tatsächlich den verwegenen Vorschlag: „Switch off your phone and enjoy the mountains!“ (Schalte dein Telefon aus und genieße die Bergwelt!).

Locker und entspannt gehen, sagt die Bergwanderführerin.

Gemeinsam geht es besser
Wir erleben eine überaus positive Gruppendynamik, denn ein gemeinsames Ziel eint auch Menschen, die sich zuvor nicht kannten und aus den verschiedensten Himmelsrichtungen kommen. Schnell gewinnen wir Vertrauen zueinander, ermutigen uns in Schwächephasen und beglückwünschen uns am Ziel. Wir tauschen Anekdoten und Erfahrungen aus, finden das bereichernd und vergessen darüber die Anstrengungen des Tages.

  Blütenvielfalt am Wegesrand
Adieu Mont Blanc

Nach 120 km Wegstrecke, Muskelkater in den Beinen und Blasen an den Füßen steige ich in Chamonix hoch zufrieden wieder in den Mont-Blanc-Express auf den Weg nach Hause ein. Es wird erneut ein Zehn-Stunden-Tag werden, diesmal im Sitzen. Der Regen schlägt an die Fenster, der Zug rattert durch die Bergtunnel zurück ins Tal.

Au revoir, arrividerci, adieu, Du weiße Diva, Du hast es gut mit uns gemeint.

Die Runde um den Montblanc im Detail (entgegen dem Uhrzeigersinn) :
Tag 1: Chamonix – Les Contamines Montjoie (Busfahrt), Notre Dame de la Gorge (1210m) – Col du Bon-homme – Col de la Croix du Bonhomme (2443m) – Chapieux, Auberge de la Nova (FRA, 1549m); 15,7 km
Tag 2: Chapieux – Col de Seigne (2516m) – Refugio Elisabetta (ITA, 2207m); 14,6 km
Tag 3: Rifugio Elisabetta – Col Chécrouit (1958m) – Courmayeur (1230m) – Rifugio Bertone (ITA, 1990m); 19,7 km
Tag 4: Rifugio Bertone – Testa Bernarda (2535m) – Rifugio Elena (ITA, 2061m); 18,6 km
Tag 5: Rifugio Elena – Col Ferret (2590m) – Ferret (1710m) – Champex-Lac (Busfahrt) – Relais d’ Arpette (CH, 1627m); 11,2 km
Tag 6:  Rel. d‘ Arpette – Fenêtre d’ Arpette (2665m) – Trient, Auberge du Mont Blanc (CH, 1292m); 13,4 km
Tag 7: Trient – Col de Balme (2204m) – Frasserands, Gite le Moulin (FRA, 1343m); 13 km
Tag 8: Frasserands – Chamonix/ Les Moussous, La Chaumière Mountain Lodge (FRA, 1035m); 12 km

Quellen:  DAV Summit Club (Tour du Montblanc: Rund um den höchsten Berg der Alpen (dav-summit-club.de);  Dank an Sieglinde Wirz für ihre Tourdaten; eigene Aufzeichnungen; Höhenangaben variieren je nach Quelle.