Alpenluft statt Adriastrand: Unterwegs im Quellgebiet des Lechs

Alpenwiese am Arlberg

Wegstrecken:

Zart plätschert das Rinnsal aus dem Kalkstein. Bergblumen blühen in der Morgensonne. Wildhummeln saugen eifrig Nektar ein. Oben in den Felsen klettern Steinböcke.

Andächtig beugen wir uns über die Lechquelle. Nur zögerlich tritt das Wasser ans Tageslicht. Wir befinden uns auf rd. 1800 m Höhe nahe dem Formarinsee am Arlberg. Dies ist der Startpunkt des 125 km langen Lechwegs von der Quelle bis zum Lechfall bei Füssen. Dazu gibt es ein nützliches Serviceheft. Es erläutert, dass der Weg durch eine der letzten Wildflusslandschaften Europas führt. Das macht den Lech bei Wanderern so beliebt, und eben dies wird mit einigem Erfolg vermarktet. Im Corona-Sommer 2020 sind die Gäste besonders herzlich willkommen. Unsere Hotelwirtin erzählt, dass der ganze Ort Lech abrupt am 14. März 2020 unter Quarantäne gestellt und alle Gäste (mit und ohne Corona) nachhause geschickt wurden. Viele Herbergen haben den Betrieb erst wieder im Juni aufgenommen. 

Im August war die Luft in den Alpen wieder halbwegs rein, die Aerosole hinreichend verweht und deshalb haben wir uns die ersten beiden Etappen des Lechwegs vorgenommen und darüber hinaus  die Bergwiesen rund um den benachbarten Rüfikopf sowie die Besonderheiten des Dorfs Lech Zürs erkundet.  

Mit dem Doppeldecker ins Urmeer

Alle 60 Minuten bricht der blaue Doppeldeckerbus Nummer 7 aus dem Dorf Lech kommend in die Bergidylle am Formarinsee ein. Auch wir hatten uns, ausgerüstet mit Lech Card und Mund-Nasen-Schutz mit angemessenem Abstand am Rüfiplatz in Lech in die Warteschlange eingereiht und bis zur Endhaltestelle kutschieren lassen. Der Busfahrer verstand sein Handwerk, auf der engen Bergstraße wurden störende Biker entschlossen weggehupt. Doch als der Bus wieder Richtung Tal entschwunden ist, geht alles wieder seinen gemächlichen Gang. Einige Wanderer machen sich auf zum See oder zur Mittagsjause in der schön gelegenen Freiburger Hütte. Erstwander*innen  versorgen ihre Blasen, weil die Wanderschuhe noch nicht eingelaufen sind. Wir aber schultern geschult unsere Rucksäcke und machen uns flussabwärts auf den Weg.

In trockenen Sommern fällt das Kinderbett des Lechs schnell über längere Strecken trocken. Wir benötigen eine gute Stunde Fußmarsch entlang des Bachlaufs, bis wir endlich ein leises Gluckern hören. Ab jetzt gibt es kein Halten mehr! Über die folgenden 255 km bekommt der Lech Zulauf von unzähligen Gewässern, bis er nördlich von Augsburg in die Donau und Tausende Kilometer weiter ins Schwarze Meer fließt.

Dank fachkundiger Schilder erfahren wir, dass die Hochgebirgsetappen des Lechwegs tatsächlich auf dem Boden des Ur-Mittelmeers Tethys verlaufen. Das ist zwar schon ein paar Millionen Jahre her und auch lange bevor sich das Gelände zu den heutigen Alpen auffaltete. Und doch entdecken wir im Kalkstein Muschelablagerungen, Abdrücke von Seeigelstacheln und anderen Meerestieren.

Wir wandern weiter bergab, immer am Bach entlang. Längst bildet der junge Lech kleine Wasserfälle, drängt sich durch schmale Schluchten und überflutet flachere Passagen. Immer wieder laufen wir über dicht an die Felsen gebaute Holzstege.

Kleiner Wasserfall am Oberlauf des Lechs
Über Holzstege am Wasser entlang

Ein paar Kilometer vor unserem Ziel Lech treffen wir auf eine britische Kleinfamilie. Sie schieben einen Golftrolley vor sich her. Denn hier im Zugertal verläuft der Lechweg oberhalb des feinen Lecher Neun-Loch-Golfplatzes. Beim Abschlag zu Loch 3 begegnen sich beide Welten. Zuerst schlägt der Mann. Wir beobachten, wie Daddy sich sorgfältig den richtigen Schläger heraussucht, konzentriert zum Abschlag positioniert, den Schläger mit halber Körperdrehung ein paar Male Probe schwingt und dann mit voller Wucht den kleinen weißen Ball vielleicht 100 Meter weit, hoch über den Flusslauf des Lechs hinweg, in Richtung Green schlägt. Atempause. Stille. Dann greift die Gattin zum Schläger. Wir laufen weiter. Ob die Bällchen in den Fluten des Lechs oder auf dem Rasen gelandet sind, werden wir nie erfahren. 

Nachhaltiger Tourismus ist teuer
Nach 14 km Wegstrecke sind wir froh, noch vor dem abendlichen Gewitter wieder das Dorf Lech erreicht zu haben. Denn was mit einem kleinen Wetterleuchten und leichtem Grummeln begann, endet nur wenige Minuten später mit einem ausgewachsenen Hagelsturm.

Lech Zürs bietet angenehme Unterkünfte und gehobene Verpflegung (und entsprechende Preisgestaltung). Die Touristikmanager werden nicht müde, Lech als das schönste Dorf in den Alpen zu preisen.  Und tatsächlich ist es dank einer rigorosen Bauverordnung augenscheinlich gelungen, trotz der vielen großen Hotels den dörflichen Charakter des Ortes zu bewahren. Prompt laufen nun einige Protestler auf Plakaten am Wegesrand gegen den Neubau des Gemeindezentrums Sturm. Denn es soll ausnahmsweise nicht mit einem traditionellen alpenländischen Giebeldach, sondern in moderner Holzbauweise gebaut werden.  Ein innovativer Stil, für den die Vorarlberger Holzfachleute weit über die Landesgrenzen bekannt sind.

Biomasse Heizwerk in moderner Holzbauweise

Lech Zürs setzt auf Nachhaltigkeit und Qualitätstourismus – für maximal 10.000 Gäste, wie in hübsch gestalteten Broschüren betont wird. Ganz so klein ist diese Begrenzung indes nicht. Das wesentlich kommerzieller anmutende St. Anton auf der Südostseite des Arlbergs kommt (laut Google) auf 11.400 Betten. Investitionen in die Tourismusinfrastruktur sind teuer und müssen sich eben auch rechnen. 

Beheizt wird Lech Zürs über vier Biomasse Kraftwerke. Das ist ein bemerkenswerter Versuch, die örtlichen Ressourcen klimaschonend zu nutzen. Der Ortsteil Oberlech gilt im Winter überdies als autofrei. Wir wollen das genauer wissen, lassen die Wanderstiefel stehen und fahren mit dem Auto hinauf. In Oberlech angelangt, geraten wir in ein 3 km langes, in den Berg gehauenes Tunnelsystem, über das im Winter die Versorgung der Hotels mit Elektrofahrzeugen sichergestellt wird. Die Gäste gelangen im Winter ausschließlich mit der Seilbahn nach Oberlech. Das ist beeindruckend, bestätigt aber auch, dass nachhaltiger Bergtourismus ganz ohne Eingriffe in die Natur schwierig ist.

Einzigartige Alpenflora und -fauna
Der Arlberg ist in Wahrheit kein Berg, sondern eine Bergregion im österreichischen Bundesland Vorarlberg. Prägend ist, dass er in einer Zone besonders heftiger Niederschläge liegt. Wintersportler erfreuen sich im Winter über sicheren Schnee. Die Einheimischen nehmen stolz für sich in Anspruch, dass hier die Wiege des modernen Skilaufs steht. Wer Stemmbogen fährt, muss fortan wissen, dass der auf dem Arlberg erfunden wurde. In den 1930er Jahren erbaute in Zürs eine kleine Firma namens Doppelmayr den ersten Schlepplift Österreichs. Heute ist sie Weltmarktführer im Seilbahngeschäft.

Wasser und Sonne sorgen für eine einzigartige Artenvielfalt auf den hochgelegenen Bergwiesen. Deswegen machen wir uns, bevor wir die 2. Etappe des Lechwegs antreten,  wieder auf den Weg nach oben.

Wer in Lech Zürs mit einer gültigen Lech Card ausgerüstet ist, hat freie Fahrt auf allen Bergbahnen. Also fahren wir hinauf auf den 2362 m hohen Rüfikopf und wandern rund um das alpine Hochtal mit dem hübschen Namen „Ochsengümple“.

Ochsen treffen wir nicht, hören aber immer wieder kurze Pfiffe, blicken uns um – und sehen nichts. Denn die braungrauen Murmeltiere hocken bestens getarnt vor ihren Löchern, richten sich auf und verharren dort ebenso unbeweglich wie das umliegende Felsgestein. Murmeltierfett wird gern als Mittel gegen Muskel-und Gelenkschmerzen empfohlen. Wir könnten das gut gebrauchen, aber ob es hilft, ist Glaubenssache.

Stetig wacht das Murmeltier

Im sumpfigen Boden und an Hängen mit guter Sonneneinstrahlung entdecken wir ein wahres Alpenblumenparadies. Meine Kenntnis der Bergflora endet leider bei Enzian und Edelweiß, doch was es hier zu sehen gibt, ist auch für Laien ein seltener Genuss. Deshalb blättere ich später eifrig in alten Bestimmungsbüchern nach. Hegi-Merxmüller, Alpenflora, in einer Ausgabe des Hanser Verlags von 1963, ist so ein hilfreiches Nachschlagewerk[1]. Nachdem ich den Staub vom Einband geblasen und die verblichenen Fotos mit meinen Aufnahmen verglichen habe, stelle ich beruhigt fest, dass etliche Gewächse die Jahrtausendwende überlebt haben. Hier eine kleine Auswahl der Arlberger Sommerblüher von 2020, die erfreulicherweise auch Wildbienen reichlich Nahrung bieten.


[1] Wer es moderner haben will, kann auch im Netz nachschauen, z.B. hier: https://www.alpen-info.net/flora/alpenblumen.html

Die ungeheure Kraft des Wassers
Auf der zweiten Etappe des Lechwegs von Lech nach Warth laufen wir durch nasse Wiesen, feuchte Wälder und auf steilen Pfaden rechts oberhalb des Lechs entlang. Jungkühe stehen etwas lustlos auf den Weiden herum. Auch unsere vierbeinige Begleiterin erscheint heute etwas missmutig.  Vom Dauerregen sind wir alle klatschnass, und auch der nun schon kräftige Gebirgsbach schwillt immer weiter an.

Lechschlucht bei Warth

Schon nach rd. 35-40 km hat der Lech seine schmalen Hochgebirgstäler verlassen und fließt durch deutlich flacheres Gelände. Im Ort Bach bei km 53 überquert man den kleinen Fluss noch über eine überschaubare Brücke, doch schon hinter Stanzach bei km 80 geht der Lech über Hunderte von Metern in die Breite. Dort nähern wir uns ein letztes Mal dem Fluss. Über glitschige Steine tasten wir uns im flachen Gewässer voran. Die bloßen Füße werden im kalten Bergwasser schon nach wenigen Sekunden taub. Wir beginnen zu ahnen, welche gewaltigen Kräfte seit Jahrtausenden diese wilde Flusslandlandschaft geprägt haben. Und morgen, wenn es regnet, windet oder schneit, sieht vielleicht schon wieder alles ganz anders aus.  

Lechbett bei Stanzach