Die Hauptstadt erwacht: Ein Lauf mitten durch Berlin

Rundstrecke: Vom Anhalter Bahnhof in Berlin-Kreuzberg  über die Stresemannstraße zum Potsdamer Platz;  über die Bellevue Allee in und durch den Tiergarten bis zur Straße des 17. Juni.  Diese überqueren und über Rüsternallee und John-Foster-Dulles-Allee zum Haus der Kulturen.  Über Parkwege zum Bundeskanzleramt und über die Paul-Löber-Allee links am Reichstag vorbei bis zum Spreeufer.  Auf der Wilhelm-straße rechts bis Unter den Linden und Brandenburger Tor. Gen  Osten auf der Straße Unter den Linden. Rechts auf der Charlottenstraße bis zum Gendarmenmarkt. Über die Schützenstraße zum Checkpoint Charlie und die Niederkirchnerstraße vorbei an Mauerresten und der Gedenkstätte Topographie des Terrors. Um den Gropiusbau herum auf die Stresemannstraße und zurück zum Anhalter Bahnhof.  Rd. 11 km.

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Es ist kurz nach sieben. Die Straßenlaternen leuchten noch. Berlin erwacht an einem beliebigen politischen Tag. Von der Ruine des Portals des Anhalter Bahnhofs in Berlin-Kreuzberg laufe ich auf der Stresemannstraße in Richtung Potsdamer Platz. An der Berliner Dependance des BMZ stehen weiß auf grün Sätze wie „Weil wir von unseren Partnern lernen wollen“.  Schade, als Begründung für Entwicklungspolitik wirkt das blass.

Eine Doppelreihe Pflastersteine zieht sich quer durch Berlin. Hier stand früher die Mauer. Bis zum Potsdamer Platz laufe ich entlang dieser ehemaligen Todeszone. Jetzt naht die Adventszeit. Deshalb wirbt auf dem Platz eine 10 Meter hohe Schneerutsche aus Kunststoff für den neuen Snoopy Film. Zwischen dem gläsernen Hochhaus der Deutschen Bahn und dem Ritz Carlton Hotel  geht es auf der Bellevuestraße in den  Tiergarten.  Auf der hübsch angelegten Allee durch den Wald kehrt schnell Ruhe ein. Einige Läufer und Radfahrer sind schon unterwegs, von links quert ein Skilangläufer auf Rollen.  Die Herbstfarben der Bäume leuchten im Morgengrau. Früher haben hier Fürsten Rehe gejagt, Kammerdiener haben sie dafür aufgespürt und festgehalten, ein Schuss ein Treffer!  So zeigen es satirische Blätter aus dieser Zeit.

Nach einem knappen Kilometer stoße ich auf die Straße des 17. Juni. Sie erinnert an den Volksaufstand 1953 in der DDR und den eigentlich auf Dauer angelegten Nationalfeiertag in der BRD. Heute wirkt das angesichts des Mauerfalls vor 26 Jahren wie graue Geschichte. Links ragt die Sieges- säule in den verhangenen Himmel, rechts das Brandenburger Tor, dahinter im Frühnebel der Fernsehturm am Alexanderplatz. Dieser Straßenabschnitt  ist die größte Festmeile Berlins. Hier werden Techno Partys, ins Zwielicht geratene Sommermärchen und  Sylvester gefeiert.  An der John-Foster-Dulles-Allee liegt das 1957 erbaute Haus der Kulturen, wegen der muschelförmigen Form des Daches von den Berlinern auch „Schwangere Auster“ genannt. Das  Gebäude war früher auf jeder Postkartensammlung von  Westberlin abgebildet. Heute wirkt es in die Jahre gekommen und an den Rand der Geschichte gedrängt.

Über gepflegte Parkwege nähere ich mich Angela Merkels Arbeitsplatz. Man kann durch die Glasfassaden nicht  erkennen, ob um diese Tageszeit schon regiert wird.  Direkt neben dem Kanzleramt steht ein Zirkuszelt. Das Tipi am Kanzleramt. Man fragt sich, was in welchem Zirkus gespielt wird.  Am Vorabend haben sich im Kanzleramt die Spitzen der Koalitionsparteien nach langem Streit auf einen Kompromiss zur Flüchtlingspolitik geeinigt. „Transitzonen light“  titelt dazu der Berliner Tagesspiegel.

Schräg gegenüber vom Kanzleramt liegt der mächtige Reichstag. Wegen der vielen Absperrungen kann man um das Gebäude nicht herum joggen. Das  ist den Abgeordneten auf ihrer Politikerlaufbahn vorbehalten. Stattdessen laufen Normalbürger links vorbei am Reichstag bis zum Spreeufer. Wenige Meter weiter das ARD Hauptstadtstudio.  Jetzt wird klar, dass die Tagesschau-Reporter für ihren Bericht nur kurz vor die Tür treten.

Ich biege rechts in die Wilhelmstraße ein. An mehreren Parlamentsgebäuden und der französischen Botschaft vorbei gelangt man auf die Prachtstraße Unter den Linden. Wer durch Berlin joggt, wird jetzt das Brandenburger Tor durchqueren wollen. Auge in Auge mit der Quadriga. Ich laufe von Ost nach West,  um eine der Säulen herum und wieder von West nach Ost auf den Pariser Platz.

Berlin erwacht. Der erste Japaner macht ein Selfie, Leute laufen mit Kaffeebechern zur Arbeit, vor dem Hotel Adlon öffnen livrierte Diener mit Zylinderhut schwere Limousinen, gegenüber öffnet das Starbucks Coffee in bester Lage.  Die  Currywurst- und Dönerbuden,  keine  300 Meter vor dem Brandenburger Tor ebenso gut positioniert,  servieren erst zum späteren Vormittag. Ein paar Schritte weiter auf der Straße Unter den Linden liegen Blumensträuße, Kränze und Teddybären vor einem mächtigen Eisengitter. Passanten haben sie aus Anteilnahme vor der russischen Botschaft niedergelegt. Nach dem Bombenattentat auf das Flugzeug über dem Sinai trauert Russland um seine Toten.

Gleich neben dem beliebten Ampelmann Laden folgen die Schauräume des strauchelnden Volkswagenkonzerns. Wo sonst die glitzernden Luxus- modelle der  verschiedenen VW-Marken stehen, herrscht plötzlich gähnende Leere. Ein Mann wischt den Boden, der große Kehraus nach dem Abgasskandal steht aber noch aus. Der Bahnhof Friedrichstraße liegt in Sichtweite. Jeder der hier einst die erniedrigenden  Grenzkontrollen beim Übergang nach Ostberlin erlebt hat, wird die Beklemmung bei der Einreise in das so fremde deutsche Nachbarland nicht vergessen.

Ich biege rechts in die Charlottenstraße ein. Hier war im Vorkriegsberlin  das Bankenviertel. An der Ecke Charlotten- und Behrenstraße steht das Gebäude der ehemaligen Berliner Handelsgesellschaft. Später zog hier die Staatsbank der DDR ein, nach der Wiedervereinigung die KfW. Direkt gegenüber das elegante The Regent Berlin Hotel.  Polizisten sichern den Eingang, sieben „weiße Mäuse“ stehen mit ihren BMW Maschinen bereit. Gleich wird die Motorradeskorte einen  Staatspräsidenten zum nächsten Termin geleiten.  Heute ist es Evo Morales, der bolivianische Präsident.

Die Tagespolitik verflüchtigt sich, manches welkt, historisches bleibt. Am Gendarmenmarkt wacht Schiller vor dem Schauspielhaus, rechts und links flankiert vom Französischen und Deutschen Dom, 1701 erbaut von der lutherischen und  französisch-reformierten Gemeinde.  Berlins schönster Platz hat eine  Schokoladenseite. Bei Faßbender & Rausch verwandelt sich die Kakaobohne in Berliner Schokoandenken aller Art.  Vom Reichstag bis zum Bären ist hier alles käuflich.

Vorbei an unbebauten Grundstücken, die in bester Lage als Parkplätze vermietet werden, gelange ich in die Schützenstraße. Der Abstecher lohnt,  denn hier ist das Deutsche Currywurst Museum Berlin zuhause. Wer keine Zeit hat es zu besuchen, kann sich als hübsche Geschenkideen  Wurstpieker aus Edelmetall oder die Pommes Schale aus Porzellan auch online bestellen.  Wenige Schritte weiter der Checkpoint Charlie, einst Übergang vom  amerikanischen in den sowjetischen Sektor Berlins. Daneben stehen mehrere Trabis an der Straße. Museumsreife erhielten beide erst, als der Kalte Krieg vorbei war.

In der Niederkirchnerstraße hat man Reste der Berliner Mauer stehen gelassen. Wo die Mauerspechte besonders fleißig waren, sieht man durch ein Loch die Gedenkstätte Topographie des Terrors mit den Ruinen ehemaliger Gebäude der NS-Staatspolizei und der SS. Auf der anderen Seite der Mauer die grauen Mauern des Bundesfinanzministeriums, auch ein Relikt  der Nazizeit.  Ein paar Schritte weiter, im Gropiusbau,  wurde eine Legosammelstelle  für Herrn Ai Weiwei  eingerichtet.  Der chinesische Aktionskünstler wollte für ein Kunstwerk aus Lego Legobausteine bei Lego bestellen, was das dänische Unternehmen aber ablehnte. Nun werden private Legospender angesprochen.

Auf der Stresemannstraße gelangt man schnell wieder zurück zum Anhalter Bahnhof. Wo früher Europas größte Bahnhofshalle stand, werden heute Konzerte veranstaltet. Dafür hat man hier 2001 für sehr viel Geld das Tempodrom errichtet.  Das zeltähnliche Dach ähnelt verblüffend Oscar Niemeyers Kathedrale in Brasilia, ein Symbol der alternden architektonischen Moderne.

November 2015

 

 

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