
Rundstrecke entgegen des Uhrzeigersinns: Hotel Annapurna, Durbar Marg (Königspalaststrasse), Neuer Königspalast, Narayanhiti Path, Thamel Viertel, Thamel Marg, J.P. Marg, Swachapu Marg, Thahiti Platz, Chandra-mang Singh Marg, Kathesimbhu-Stupa, Chittadhar Marg, Asan Square, Siddhidas Marg, Durbar Square, Basantpur Square, New Road, Kantipath, Bir Hospital, Jamal Street, Durbar Marg, Hotel Annapurna; rd. 5 km.

Wer durch die Altstadt von Kathmandu laufen will und mit nepalesischen Schriftzeichen nicht sonderlich vertraut ist, der muss sich auf seinen Orientierungssinn verlassen. Denn (englischsprachige) Straßenschilder sind die Ausnahme. Online-Karten helfen bei der groben Laufplanung, doch Details bleiben dem Zufall überlassen. Es ist indes nützlich zu wissen, dass die nepalesische Bezeichnung „Marg“ auf Deutsch „Straße“ bedeutet.
Ich laufe gegen 6:30 Uhr bei angenehmen Morgentemperaturen los. Der nächtliche Regen hat die Luft zum Glück ein wenig gereinigt, denn die Luftqualität im 1300 Meter hoch gelegenen Kathmandu gilt im weltweiten Vergleich als besonders gesundheitsgefährdend. Der Autoverkehr hat in der 1,7 Millionenstadt in den letzten Jahren dramatisch zugenommen, doch die Einhaltung von Abgasnormen gilt hier nicht als oberste Priorität. Heute früh aber sind die Straßen noch leer.
Mord im Königspalast
Das altehrwürdige Annapurna Hotel im Zentrum Kathmandus ist ein guter Ausgangspunkt für einen Altstadtlauf. Auf der Durbar Marg, also der großzügig angelegten Straße zum Königspalast, steuere ich zunächst in nördlicher Richtung auf ein nicht sonderlich ansehnliches, in den 1970er Jahren erbautes Palastgebäude zu. Dreißig Jahre später, genau am 1. Juni 2001, fand hier die Jahrhunderte alte nepalesische Monarchie ein jähes Ende, als einer der Söhne des Königs nahezu die gesamte Familie mit einer Handfeuerwaffe niedermetzelte. Die New York Times mutmaßte seinerzeit, dass ein Streit zwischen Eltern und Sohn um die Wahl der „richtigen“ Braut auf das Blutigste eskaliert war. Es folgten Jahre des Bürgerkriegs und gewaltvoller Machtkämpfe. Seit 2008 ist Nepal eine – wenn auch fragile – parlamentarische Demokratie. Gegenwärtig wird es von einem sogenannten kommunistisch-sozialistischen Parteienbündnis regiert. Nur die inzwischen 90 jährige Königinmutter „Her Majesty Queen Mother Ratna of Nepal“ residiert noch in dem als Museum umgewidmeten Palastgelände. Dort wird sie ebenso verehrt wie geduldet. Lokale Zeitungen berichten, dass man ihr wegen unbezahlter Rechnungen auch mal den Strom abschaltet.
Vom ehemaligen Königspalast laufe ich in östlicher Richtung in das bei Touristen beliebte Thamel Viertel weiter. In der Thamel Marg sind in den Morgenstunden lediglich ein paar Cafés geöffnet, ansonsten sorgen Müllmänner für saubere Straßen und Lieferanten für Nachschubware. Tagsüber und abends bietet das Viertel neben allerlei Unterhaltung auch interessante Einkaufsmöglichkeiten, so z.B. handgeschöpftes Papier aus Baumrinde aus den Höhenlagen des Himalayas. Wegen seiner besonderen Qualität wird das Papier auch von Fachgeschäften in Deutschland vertrieben.
Das reiche Universum der hinduistischen Götter
Aufs Geratewohl laufe ich nun in südlicher Richtung durch die Altstadtgassen und entdecke immer wieder neue große und kleine hinduistische Tempel, mal mitten auf einer Straßenkreuzung, mal versteckt in Hinterhöfen. Die viereckigen Bauten sind zumeist dreistöckig angelegt und werden auf jeder Etage mit geschwungenen Pagodendächern verziert, die sich nach oben hin verjüngen. Es heißt, dass die Stockwerke für die drei wichtigsten Gottheiten im Hinduismus stehen: Brahma, der Schöpfer, Vishnu, der Erhalter und Shiva, der Vernichter und Erneuerer. Dieses Trio steht an der Spitze eines spirituellen Universums, das mit rd. 330 Millionen (!) Gottheiten selbstverständlich nicht nur alle monotheistischen Religionen, sondern auch die illustren Charakterköpfe des griechischen Olymps in den Schatten stellt.

Am Asan Square treffe ich auf den Tempel der Gottheit Ganesha, die sich auch in unseren Breiten besonderer Beliebtheit erfreut. Ganesha gilt als Glücksbringer. Dargestellt wird er gern als buntbemalte Figur mit Elefantenkopf, großen Ohren und einem beleibten menschlichen Körper. Mit seinem nicht unbeträchtlichen Gewicht reitet er ausgerechnet auf einer Maus. Nicht nur die Maus, sondern jedes Tier, das mit den zahlreichen hinduistischen Gottheiten in Verbindung gebracht wird, genießt besondere Hochachtung und Schutz. Dazu gehört nicht nur die sprichwörtliche „heilige Kuh“. In Kathmandu sind es offenkundig auch die unendlich vielen Tauben, die rund um die Tempelanlagen mit Maiskernen gefüttert werden. Auch Hunden ist in Nepal ein eigener Feiertag gewidmet, denn sie gelten als die Hüter der Häuser und des Himmels.
Rd. 80% der rd. 30 Millionen Nepalesen sind Hindus, 9% Buddhisten. Schon in den frühen Morgenstunden beobachte ich Frauen und Männer, die Tempelanlagen ausfegen, mit Blumen schmücken oder dort einfach nur zur Andacht verweilen. Manchmal sind es auch ganze Familien mit Kindern und bunten Luftballons, die sich gemeinsam zum Gebet treffen. Früher brachte man neben Blumenschmuck auch Tieropfer dar. Heute bieten Devotionalienverkäufer praktischerweise Schalenstücke von Kokosnüssen an, deren „Behaarung“ das Tieropfer ersetzen.
Auf dem mühsamen Pfad der Erleuchtung
Südlich des Thahiti Platz gelange ich über eine Seitengasse zur tibetisch-buddhistischen Kathesimbhu-Stupa aus dem 17. Jahrhundert. Der Platz strahlt eine wohltuende morgendliche Ruhe aus. Hunde liegen schlafend kreuz und quer auf dem Platz, Tauben gurren friedlich vor sich hin, Gebetsfahnen flattern leise im Morgenwind. Was als Gebäude einfach so da zu stehen scheint, hat in Wirklichkeit einen tieferen spirituellen Sinn. Denn die Architektur der Stupa ist der buddhistischen Lehre vom Streben nach Erleuchtung nachempfunden. Die übereinander geschichteten Bau-elemente – quadratische Grundfläche, kreisrunder Sockel mit großer weißgekalkter Kuppel, turmförmiger goldfarbener Aufbau mit den stilisierten Augen des Buddhas und ganz oben ein Schirm auf der Spitze – symbolisieren die Figur des Buddhas und zugleich die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Leere/Himmel. Dies gilt auch für die gelben, grünen, roten, weißen und blauen Farben der tibetischen Gebetsfahnen, die sternförmig von der Stupa herabhängen. An der Spitze der Stupa ist nach dieser Vorstellung die erleuchtete Weisheit angesiedelt. Sie kann nur ein Buddha erreichen, der mühsame Weg dorthin aber sollte mit Hilfe der Tugend, Meditation und Weisheit das Ziel menschlichen Strebens sein.

Der Leiter einer tibetisch-buddhistischen Malschule wird später erläutern, dass die Kunst der Mandalas darin besteht, die Spiritualität der Stupas – wie aus der Vogelperspektive betrachtet – zweidimensional abzubilden. Im Zentrum und damit an der Spitze steht die Lotusblüte, stellvertretend für den o.g. Schirm, als Zeichen der vollendeten Erleuchtung. Die von außen zur Mitte hin sich verjüngenden Vierecke und Kreise symbolisieren die fortschreitenden Stufen der Erleuchtung – des Körpers, der Sprache und des Denkens – auf dem Wege dorthin.
Für einige Augenblicke lasse ich die ruhestiftende Ausstrahlung dieses Ortes auf mich wirken. Ich spüre, ohne es noch vollständig zu begreifen, warum auch in unserer westlichen Gesellschaft diese Philosophie des Loslassens, der bewussten Abkehr von den wahrgenommenen Zwängen des Alltags, eine zunehmende Faszination ausübt. Das häufig bemühte Wort von der Achtsamkeit in der Lebensführung leitet sich letztlich aus der Gedankenwelt des Siddhartha Gautama ab. Also des Mannes, der rd. 500 Jahre vor Christus zum Begründer des Buddhismus wurde.
Im Schritttempo über den Straßenmarkt
Welch ein Gegensatz, als ich schließlich ein paar Straßenecken weiter auf den quirligen Asan Square und den Straßenmarkt auf der Siddhidas Marg gelange! Spätestens hier ist Joggen nicht mehr möglich. Morgens um sieben ist offenbar zentrale Einkaufszeit. Die etablierten Läden sind zwar noch geschlossen, aber etliche Marktstände haben sich auf der Straße ausgebreitet. Langsam folge ich dem Menschenfluss in Richtung Durban Square. Was auf den ersten Blick wie ein buntes Durcheinander aussieht, folgt einer eigenen Ordnung. Auf meinem Weg liegt zunächst die Männerbekleidung aus: Hosen, Hemden, T-Shirts, Unterwäsche. Dann folgt die Damenabteilung mit einem auffallend großen Angebot an Büstenhaltern. Ein Stück weiter die Straße hinunter kommen Plastik-latschen, Taschen und Koffer, bis die Auslage schließlich zu den Nahrungsmitteln übergeht. Das Kathmandu-Tal ist offensichtlich sehr fruchtbar, denn die Auswahl an Obst, Gemüse und Kräutern kann sich sehen lassen. Dazwischen umsorgen Teeverkäuferinnen Anbieter und Kunden. Als Fremder tauche ich erfreulich unbeachtet in dieses eindrucksvolle Marktgeschehen ein. Ich nähere mich dem Durbar Square, und deshalb finden sich nun vermehrt Blumenstände mit den typischen zu Girlanden aufgezogenen gelb-orangenen Tagetesblüten. In den Tempeln sind diese Blumengirlanden ein beliebtes Ornament.

Handwerkskunst und
Politik am Durbar Square
Durbar Square heißt so viel wie Königspalastbezirk. Die über 40 hinduistischen und buddhistischen Tempel,
Schreine und Paläste aus dem 12. bis 18. Jahrhundert bilden ein einzigartiges Weltkulturerbe,
das jedoch erheblich unter dem Erdbeben von 2015 gelitten hat. Etliche Gebäude werden mit hölzernen
Stützpfeilern vor dem Einsturz bewahrt. Unübersehbar ist, dass die Tempel vor allem mit chinesischer und japanischer Hilfe
restauriert werden. Das rote Logo „China Aid“ prangt an fast jeder Ecke. Der
südliche Nachbar Indien erscheint dagegen für den westlichen Besucher weniger präsent.
Dennoch beherrschen indische Unternehmer
den lebenswichtigen Güterverkehr mit dem Nachbarland. Nepal steckt in einer politischen
Sandwichposition. Daher ist es Staatsräson, mit den beiden benachbarten Großmächten
gute Beziehungen zu pflegen.
Das zeigt sich auch für den Wiederaufbau auf dem Durbar Square. Denn eine Besonderheit der alten Gebäude sind die überaus kunstvoll gestalteten Fenster-, Tür- und Giebelornamente aus geschnitztem Holz. Sie sind das Werk der seit Jahrhunderten auf dieses Handwerk spezialisierten ethnischen Gruppe der Newari, die im Land hohes Ansehen genießen. Es wird erzählt, dass es zwischen Nepal und China eines intensiven Dialogs bedurfte, bis Newari-Facharbeiter angemessen an den von China finanzierten Restaurationsarbeiten beteiligt wurden.

Für die Einheimischen ist der Bezirk der alten Königspaläste das soziale und kulturelle Zentrum der Stadt. Auch zu einer Tageszeit, in der kaum ein Tourist zu sehen ist, herrscht hier ein reges Treiben. So auch vor der großen Figur des schwarzen Bhairav, einer Inkarnation des Gottes Shiva. Wer hierher kommt, ist gut beraten, die Wahrheit zu sagen. Denn der Bhairav schwingt bedrohlich ein großes Schwert. Wer lügt, so die Überlieferung, den tötet er mit einem Hieb. Vor dem Schrein treffen sich auch junge Paare. Ob sie sich hier ewige Treue versprechen?
Einzigartig ist der Palast der Kumari. Die Kumari ist ein junges Mädchen aus der Ethnie der Newari. Es wird als kleines Kind auserwählt und bis zum Zeitpunkt der ersten Menstruation als Gottheit verehrt. Im Innenhof ihres Palastes warten die Menschen jeden Tag neugierig darauf, dass sich das Mädchen am Fenster zeigt. Mit etwas Glück geschieht das am Nachmittag. Als ich morgens den Innenhof betrete, ist er leer. Nur ein älterer Herr sitzt am Fenster.
Der Durbar Square lädt zum endlosen Verweilen und Herumschauen ein. Deshalb haben es sich hier auch die Rikscha-Fahrer bequem gemacht. Und auf den Stufen der Tempel vergnügen sich tagsüber junge Nepalesen mit Selfie-Aufnahmen.
Ich setze meinen Rundlauf quer über den Basantpur Square fort. Das ist der Platz der Souvenirhändler, die zu dieser Stunde beginnen, ihre reich bestückten Stände aufzubauen. Wem es gelingt, den Anpreisungen der Händler zu widerstehen und den Platz mit leeren Händen zu verlassen, der muss schon die asketischen Eigenschaften der berühmten Sadhus besitzen. Sadhus werden als heilige Männer verehrt und halten sich in hinduistischen Tempelanlagen auf. Sie tragen lumpenähnliche Bekleidung und treten mit bunt bemalten Gesichtern auf. Für einen 50 Rupien-Schein setzen sie sich bereitwillig für ein Foto in Pose. Manche nennen sie deshalb auch Schein-Heilige.
Die letzten Kilometer laufe ich über größere Straßen zum Hotel zurück. Auf der sogenannten New Road haben sich etliche moderne Geschäfte und Finanzinstitute angesiedelt. Auffallend ist die große Anzahl der Goldjuweliere, denn nepalesische Frauen – das habe ich auch in den abgelegensten Bergdörfern beobachtet – investieren ihr Erspartes gerne in Goldschmuck. Das schafft Sicherheit.
Auf dem großzügig angelegten Kantipath Boulevard jogge ich an einem der größten öffentlichen Krankenhäuser der Stadt vorbei. Das Bir Hospital genießt eigentlich einen guten Ruf, doch vor dem Eingang bilden sich schon in den frühen Morgenstunden lange Schlangen wartender Patienten. Eine örtliche Zeitung berichtet von einem Streik der Ärzte, die bessere Arbeitsbedingungen einfordern.
Zurück im Hotel grüßt das Wachpersonal formvollendet in Livree. Trekker schlurfen mit schweren Beinen zum Frühstückssalon. Die Wandertour liegt ganz offensichtlich schon hinter ihnen, und vielleicht haben sie auch schon Kathmandu besichtigt. Bald werden sie wieder ein Flugzeug besteigen und eine faszinierende Welt hinter sich lassen.