(aus der Reihe „viertelvorsieben für Senioren“)

Rundstrecke: Im Wiesengrund – Untere Heslibachstraße – Schule – Reformierte Kirche Küsnacht – Dorfstraße – Zürichstraße – Unterführung S-Bahn – Unter Dorfstraße – Poststraße – Postweg – Unterführung Seestraße – Hornweg – Hornelangpark – Spielplatz – Hornweg – Zehntentrotte – Seestraße – Im Hörnli – Schiffsanleger Küsnacht Heslibach – Freihofstraße – S-Bahn Unterführung – Untere Heslibachstraße – Im Wiesengrund; ca. 4 km.

Der Auftrag
Es ist reiner Zufall, dass meine Enkelin ihre erste Dienstfahrt mit Opa ausgerechnet in Küsnacht, an der Goldküste des Züricher Sees antritt. Der Auftrag an Opa lautet schlicht: Drei Tage die elfmonatige Paula hüten (aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ist der Name frei erfunden). Ich erhalte alle Freiheiten, verfüge als Grundausstattung über einen geländegängigen Kinderwagen, jede Menge Windeln in Größe 4 sowie über eine Auswahl etwas fad schmeckender Hipp-Gemüse-Gläschen. Ferner erhalte ich Hinweise zu Einkaufsmöglichkeiten sowie eine Einführung in die Wunder des Thermomix-Kochers für die Zubereitung von Gemüsebrei.
Paula ist ein überaus aufgewecktes Mädchen, das jedoch an Opas kunstvoll aufgebauter Kugelbahn enttäuschend wenig Interesse zeigt. Mit raschen Handbewegungen hat sie die Konstruktion blitzschnell wieder dem Erdboden gleich macht.
Also ändern wir das Programm und machen uns auf zur Erkundung des 14-Tausend-Seelen-Dorfes Küsnacht. Paula wohnt hier mit ihren Eltern erst seit wenigen Monaten. Für sie und mich ist alles neu. Paula hat immerhin einen Schweizer Pass und ist damit Einheimische. Ich bin von auswärts angereist und verbinde mit der Schweiz leider nur wenig mehr als Schweizer Käse.
Grüezi miteinand‘, werden der Kinderwagen und ich freundlich von Passanten gegrüßt. Doch bis ich vom deutschen Guten Tag, oder vom Tiroler Grüß Gott endlich umgeschaltet habe, ist es für eine Erwiderung längst zu spät. Grüezi, Grüezi, Grüezi, grüße ich nun mehrmals verstohlen den Kinderwagen von hinten. Für die nächste Begegnung sind wir nun schon besser vorbereitet! Jedenfalls ignorieren die Leute wohlwollend den unverkennbar deutschen Akzent des Opas.
Paula und ich rollern frohgemut vorbei an hübschen Villen mit aufgeräumten Vorgärten. Viele Häuser stammen aus der vorigen Jahrhundertwende, andere sind neueren Datums, weitere werden gebaut. Küsnacht wächst und wirkt gediegen, sauber und ordentlich. Auf der Homepage der Gemeinde erfahre ich neben vielen anderen interessanten Dingen, dass der Ort mit dem goldenen Kissen im Wappen auch solide Steuereinnahmen einfährt.
Von unserem Ausgangspunkt im Wiesengrund kommen wir schnell auf die Untere Heslibachstraße und zur örtlichen Schule. Neben dem adretten Schulgebäude liegen ein großer Sportplatz und gleich daneben auch noch eine Schwimmhalle, aus der gerade zwei Schülerinnen mit klatschnassen Haaren herauskommen. Statt Schwyzerdütsch schwatzen sie auf Englisch miteinander. Das verwundert nicht, wenn man weiß, dass in Küsnacht ausweislich der Dorfstatistik rund 25% aller Einwohner als Ausländer registriert sind. Nicht wenige von Ihnen dürften ihr (gutes) Geld im nahegelegenen Zürich verdienen. Gleich gegenüber der Schule holt eine Mutter ihren Filius aus der Kita ab.
Es ist ein wunderbar milder Oktobernachmittag und offensichtlich Zeit für Mütter und polnische Au Pair Mädchen, die Kinder von Schule oder Kinderstätten abzuholen. Ja, ich begegne zu dieser Stunde tatsächlich keinen Vätern und lediglich einem türkischen Opa, der mit Enkel und Fahrrad unterwegs ist.

Vor der Reformierten Kirche Küsnacht machen wir einen kurzen Halt, denn mitten im Dorf erstreckt sich zu meiner Überraschung ein großer Weinberg. Die Trauben sind längst gelesen. Doch wenn ich mich recht an das Gläschen vom Vorabend erinnere, könnten sie sich bald in einen ansprechenden Riesling verwandeln. Der Weinbau, so steht’s in der Geschichte Küsnachts geschrieben, hat an diesen sonnenverwöhnten Hängen des Zürichsees eine lange Tradition.
Die Kunst des Kinderwagenschiebens
Zurück zu meinen großväterlichen Pflichten. Paula hat ihr anfängliches leicht nörgelndes Gemurmel schon nach den ersten 500 Metern unserer Spazierfahrt eingestellt und ist mit der Bewegung des Kinderwagens selig eingeschlafen. Die Mütze ist ihr über die Augen gerutscht. Da hängt sie nun wie eine Augenbinde. Den Schlaf unterbricht sie auch nicht, als ich den Kinderwagen reichlich unsanft Stufe für Stufe und Schlag auf Schlag vom Kirchplatz hinunter zur Dorfstraße manövriere. Klassischer Anfängerfehler – natürlich hätte ich die barrierefreie Route rechts um die Kirche herum zum Dorfplatz nehmen sollen.
Tatsächlich ist Küsnacht fast überall barrierefrei. Ob es nun durch die Unterführungen unter der stark befahrenen Seestraße oder über die Rampen zu den S-Bahngleisen geht, mit dem Kinderwagen kommt man überall gut hin. Mühsam wird es nur, wenn man die Hügel in die höher gelegenen Wohnviertel hinaufläuft, oder gar entlang des Tobel, dem Küsnachter Dorfbach, aufwärts die Kammhöhe erklimmen will.
Das machen wir heute nicht, sondern steuern stattdessen auf das Seeufer zu. Ein Höhepunkt ist zweifellos die Hornanlage mit dem sogenannten Delta, durch das der Dorfbach in den Züricher See plätschert. Das „Delta“ hat in etwa die Spannweite einer ausgezogenen Hundeleine. Obwohl hier also keine spektakuläre Flusslandschaft aufwartet, strahlt der Ort eine wohltuende Ruhe aus. Am kleinen Strand stehen Stühle herum, die zu einer kontemplativen Pause einladen.

Hinter mir liegt der offensichtlich beliebte Spielplatz der Hornanlage. Es trifft sich gut, dass gleich daneben eine gepflegte öffentliche Toilette ist. Warum erwähne ich das? Weil man sich als Opa mit schwächelnder Blase schnell die Frage stellt, wie man dieses Problem löst, ohne das Enkelkind allein zu lassen. Aber glücklicherweise findet sich am Spielplatz schnell eine freundliche Mutter, die auf den Kinderwagen aufpasst. Als ich mit Paula tags drauf durch Zürich spaziere, treffe ich im Café wieder eine hilfsbereite Dame, die mir beruhigend erklärt: „Ich habe reichlich Großmuttererfahrung!“
Viel Prominenz am Seeufer
Weil Paula immer noch schläft und auch noch ein bisschen zu klein ist, heben wir uns die Erkundung des Spielplatzes für ein anderes Mal auf. Stattdessen biegen wir rechts in den schmalen Hornweg ein und kommen zum interessantesten Abschnitt unserer Spazierfahrt. Der Hornweg verläuft rd. 50 Meter parallel zum Seeufer. Hier stehen die schönsten Landhäuser und Villen Küsnachts. Mal öffnet sich der Blick auf herrliche Gärten mit Kieseinfahrten (wer Kies hat, hat Kies), mal endet er abrupt vor hohen Metallzäunen. An diesem Seeufer hat übrigens der deutsche Sozialist August Bebel Ende des 19. Jahrhunderts eine Villa bezogen; und hier findet man auch das hübsche Gelände des Carl Gustav Jung Instituts, in dem psychotherapeutische Fortbildungen angeboten werden. Das sehenswerte ehemalige Wohnhaus des Psychiaters und seiner Frau liegt nur ein paar Hundert Meter weiter an der Seestraße und ist heute als Museum zugänglich.
Der mit C.G. Jung gleichaltrige Thomas Mann (1875-1955), der seine Schweizer Exiljahre 1933-38 mit Familie ebenfalls in Küsnacht verbrachte, wohnte unterdessen weiter oben am Hang in der Schiedhaldenstraße. Zeitzeugen berichten indes, dass er und die Küsnachter nicht so recht miteinander warm geworden sind.
Nicht zugänglich ist auf der Seestraße das Schloss Algonquin, der Wohnsitz von Tina Turner, die sich, inzwischen über achtzigjährig, nach einer Weltkarriere als Sängerin an den Züricher See zur Ruhe gesetzt hat. Wenn Paula größer ist, werden wir die Boxen aufdrehen und uns gemeinsam den Klassiker „Proud Mary“ anhören. Kann aber auch gut sein, dass Paula statt Tina Turner eher TikTok cool findet.

Unsere Spazierfahrt am See endet am Schiffsanleger Küsnacht Heslibach. Von hier könnte man direkt nach Zürich hinüber schippern oder aber das eigene Boot zu Wasser lassen. Mein Blick schweift über das Seeufer und hinüber zu den schneebedeckten Schweizer Hochalpen. Das genügt als Eindruck, mehr gibt es zu diesem schönen Fleckchen Erde nicht zu sagen. Außer, dass wir jetzt ganz schnell nach Hause müssen, um im Thermomix Gemüsebrei zu zaubern.
